Content-ID: 005|01 | Autor: Gerd | Stand: 4.6.2020
Die Corona Prophezeiungen
Wie werden wir nach Corona wirklich leben?
Es ist tatsächlich rasch gegangen. Kaum hat das Corona-Virus unser aller Leben in den Griff bekommen, waren sie da, die ersten Prophezeiungen für die Zeit danach. Seitdem können wir uns vor Zukunftsvisionen aus allen Ecken der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr retten. Dabei scheint es egal zu sein, ob es sich um wissenschaftliche Prognosen künftiger Zustände handelt. Oder ob begnadete Seher*innen von längst fälligen Umstürzen und vom Ende von was auch immer berichten. Scheinbar wird alles anders!
Es wird schon so sein, dass die Welt nach der Krise anders aussehen wird als vorher. Das haben Krisen allgemein so an sich. Wir haben aber auch aus der Geschichte gelernt, dass wohl alle Vorhersagemodelle eines gemeinsam haben: Sie werden so wie herbeigeredet nie eintreten!
Das beginnt bei der kurzfristigen Vorschau auf wichtige Kennzahlen für das Gemeinwesen und die Wirtschaft. Selbst Fachleute, die professionell mit der Prognose von Entwicklungen zu tun haben, müssen sich fast im Stundentakt selbst korrigieren. Das betrifft das Wirtschaftswachstum oder die Arbeitslosigkeit ebenso wie den Bedarf an Intensivbetten oder den Verlauf einer zweiten Ansteckungswelle. Das ist jedoch der schwierigen Datenlage und den komplexen Zusammenhängen von Ursachen und Wirkungen geschuldet und deshalb okay so. Wir haben längst gelernt, damit umzugehen und unsere Planungen darauf abzustimmen. Das nennt man Flexibilität oder, wenn’s ganze Organisationen betrifft, Agilität. Die bekannt unsichere Prognose erzeugt dabei eine Grundstimmung, die hilft, uns auf die nächsten Schritte einigermaßen vorzubereiten.
Ganz etwas anderes ist es, wenn wir die vielen Prophet*innen hören, die uns auf eine Neuordnung der Gesellschaft oder der Wirtschaft nach Corona vorbereiten wollen. Auch wenn viele der Zukunftsvisionen wünschenswert und nachvollziehbar sind, sind sie meist doch nur Spekulation. Und zwar aus drei Gründen:
- Sie beschreiben als zukünftige Modelle in zukünftigen Rahmenbedingungen Gleichungen mit mehreren Unbekannten, die so nicht zu lösen sind.
- Sie beschreiben das Ende eines Prozesses, der erst durch Corona in Gang gesetzt wurde und über dessen Verlauf wir keine Ahnung haben.
- Zukunft passiert nicht, Zukunft wird vorwiegend gemacht. Das heißt, dass die Neuordnung, die uns prophezeit wird, auch aktiv betrieben werden muss. Das geschieht vorwiegend auf der Ebene der Politik oder Zivilgesellschaft, aber oft auch durch ambitionierte Geschäftsmodelle.
Es ist der letzte Punkt, der aus meiner Sicht im aktuellen Nach-Corona-Kaffeesud-Lesen für viel künstliche Aufregung sorgt. Jetzt ist nämlich die beste Zeit, sich möglichst selbst erfüllende Prophezeiungen unter die Leute zu bringen. Corona hat unser eingefahrenes Leben aus der Spur geworfen. Wer es heute schafft, Gewohntes infrage zu stellen und die Menschen zu überzeugen, die Veränderungen zuzulassen, hat mit seinen Projekten hohe Erfolgsaussichten.
Daran ist grundsätzlich nichts verwerflich. Es sind nicht nur Horror-Szenarien in Umlauf gebracht worden – im Gegenteil: Corona könnte auch dem Klimaschutz einen Extra-Schub geben. Oder es könnte eine neue Solidarität zwischen den Menschen um sich greifen. Oder, oder, oder, … es ist tatsächlich nichts gegen unsere Wünsche an die Zukunft einzuwenden. Um sie jedoch zu erfüllen, muss mehr geschehen, als Prophezeiungen abzusetzen und darauf zu warten, dass etwas daraus wird.
Die Top 3 Prophezeiungen …
… die in der Berichterstattung ausgiebig breitgetreten werden, gut klingen und doch wahrscheinlich so nie eintreten werden:
Neuer Schwung gegen die Klimakrise?
Meine Hypohese | Alles bleibt beim Alten: Die Klimabilanz während der Corona-Shut-Downs in allen Ländern dieser Erde war beeindruckend gut. Klare Himmel über der ganzen Welt haben den negativen Einfluss von uns Menschen auf das Klima gut veranschaulicht. Wer jedoch in den vergangenen Jahrzehnten die Klimadiskussion verfolgt hat, weiß, dass diese Erkenntnis nicht neu ist. Wir wissen auch, dass die so schnell sauber gewordene Luft kein Zeichen dafür ist, dass das Klima ebenso schnell gerettet werden kann. Im Gegenteil: Wir wissen, dass wir in einem dramatischen Veränderungsprozess stecken, der nie mehr umgekehrt, durch den Menschen aber entscheidend verlangsamt werden kann.
Damit bleibt auch klar, dass die Klimakrise nichts mit der Corona-Krise zu tun hat, außer dass beide einige Zeit parallel existiert haben werden. Das Virus wird wieder verschwinden und es wird einige tiefe Spuren in unserem Leben hinterlassen haben. Ob diese uns dazu bringen, unseren Lebensstil derart zu verändern, dass klimarelevante Effekte erzielt werden, wage ich jetzt zu bezweifeln1). Vielmehr befürchte ich, dass ein Wieder-Aufflammen der Klimadiskussion nach Corona mit unmittelbar folgender Wirtschaftskrise wohl die eine Krise zu viel sein wird. Immerhin geht es in all diesen Notsituationen um Existenzangst, Einschränkung und Verzicht. Da kann es schon sein, dass vielen Menschen die Kraft ausgeht.
Die alles entscheidende Frage ist daher, ob wir mit der gewonnenen Klarheit zu klimarelevanten Vorgängen rasch mehr Menschen überzeugen können als bisher. Und zwar so viele mehr, dass die Politik auf allen Ebenen auch radikalere Formen des Klimaschutzes als Willen der Mehrheit in ihre Programme aufnimmt. Es braucht sowieso weit stärkere Bemühungen zum Schutz des Klimas, als es aktuell in irgendeinem Regierungsprogramm dieser Welt niedergeschrieben steht. Nur dann wird es gelingen, dort wieder anzusetzen, wo wir vor Corona stecken geblieben sind. Gelingt das nicht, ändert sich auch nichts.
1) Meine derzeitige Einstellung – ich hoffe aber, dass ich mich irre!
Wird Home-Office die Arbeitswelt von morgen?
Meine Hypothese | Nur ein aufgewärmter Trend: Namhafte Expert*innen1) sprechen schon von der längst fälligen Zwangsdigitalisierung unserer Wirtschaft durch Corona. Sie meinen damit digitale Home-Office-Plätze, Video-Konferenzen und Online-Webinare, die während der Betriebsschließungen rasch zur Normalität wurden. Und sie haben scheinbar recht damit. Derartige Angebote gibt es bereits seit vielen Jahren. Sie sind nützlich und in vielen Länder erprobt. Lediglich hat bis Corona die Akzeptanz dieser Techniken hierzulande gefehlt.
Vor allem der Gewinn an Produktivität und die Ersparnis an Reisekosten, wenn Konferenzen nur mehr virtuell abgehalten werden, wirkt auf Unternehmen attraktiv. Zudem klingt eine Reduktion des benötigten Büro-Raums verlockend, wenn die Belegschaft im „Schichtbetrieb“ vor Ort bzw. im Home-Office arbeitet. Auch vonseiten der Arbeitnehmer*innen wird es künftig sicher gesteigerte Nachfrage nach Home-Office-Tagen geben. Vor allem das entschleunigte Arbeitsumfeld und die Möglichkeit, Beruf und private Kernaufgaben parallel zu erledigen, sprechen für mehr Arbeit von zuhause aus.
Dagegen spricht die Tatsache, dass das berufliche Umfeld einen vertrauten sozialen Knotenpunkt der Menschen darstellt, an den es aus der häuslichen Monotonie zu fliehen gilt. Besonders dann, wenn mit Blick auf die Karriere nur vor Ort die entscheidenden Akzente gesetzt werden können. Ebenso ist das Vertrauen der Unternehmen darin, dass auch tatsächlich produktiv gearbeitet wird, enden wollend. Zudem werden Arbeitnehmer*innen sich wehren, wenn sie fest angestellt aus dem Büro in ein prekäres Arbeitsverhältnis als „neue Selbstständige“ ausgelagert werden. Aber wenn wir uns ehrlich sind, betrifft diese Thematik eine ohnehin überschaubare Zielgruppe. So überschaubar, dass die angekündigte Entlastung im Morgenstau durch Home-Office wohl bescheiden ausfallen wird.
Vielmehr werden wir es in der Arbeitswelt nach Corona mit einer Reihe von altbekannten Problemen zu tun bekommen. So werden auch weiterhin viele Menschen in den Branchen Handel, Tourismus, soziale Dienste oder Produktion/Bau arbeiten. Und da wird man vor Ort gebraucht. In einigen dieser Branchen wird nach Corona wohl Arbeitslosigkeit und nicht die freie Platzwahl zum Thema werden. Die gute Nachricht dabei ist, es werden auch dringend benötigte Fachkräfte freigesetzt. Dann wird das Überangebot an Arbeitskräften auch beim Lohnniveau negativ zu spüren sein. Das steigert die Gefahr der Betroffenen, rasch in prekäre Arbeitsverhältnisse oder gar Home-Jobbing abzurutschen. Dazu kommt letztendlich der steigende Druck auf die Unternehmen, produktiver zu werden. Doch hier stehen die Anbieter*innen digitaler Lösungen als Ersatz für menschliche Arbeit auch ohne Corona längst in den Startlöchern und wittern das ersehnte Geschäft.
Aus meiner Sicht bringt Corona zwar mehr Optionen, jedoch nichts entscheidend Neues in die Arbeitswelt. Alles, was wir jetzt erleben oder künftig stärker wahrnehmen werden, liegt nämlich schon lange in der Luft. Das, was kommt, wäre auch ohne Corona nicht aufzuhalten gewesen.
1) U.a. auch Vertreter*innen von IT- und Ausrüsterfirmen für Home-Office-Plätze und Video-Konferenzen.
Konsumieren wir künftig bewusster?
Meine Hypothese | Mehr Wunsch als Wirklichkeit: Es klingt tatsächlich sehr vernünftig, wenn angesichts der durch Corona explodierenden Kritik an der Globalisierung in Aussicht gestellt wird, dass wir künftig bewusster konsumieren würden. Schlagworte wie krisensichere Versorgung, regionale Wertschöpfung und die verbesserte Klimabilanz von Produkten und Unternehmen machen Lust auf mehr. Zudem klingt es angesichts des gerade Erlebten sehr realistisch, dass diese Argumente endlich in unseren Köpfen angekommen sind. Aber wie lange halten sie sich dort?
Unser Konsumverhalten wird stark durch das verfügbare Einkommen und den Preis eines Produktes beeinflusst. Das zwingt entweder lokale Anbieter*innen dazu, günstiger zu produzieren als die Konkurrenz aus den Billiglohn-Ländern. Oder wir Konsument*innen sind bereit und in der Lage, höhere Preise zu bezahlen. Das eine setzt eine Steigerung der Produktivität voraus – ev. zulasten von Arbeitsplätzen oder der Qualität. Das andere, dass wir entweder bald tatsächlich alle mehr Geld im Börsel haben werden oder dass wir auf etwas verzichten.
Aber warum Verzicht? Es reichen unsere Konsum-Wünsche heute schon weit über die Erfüllung unserer Grundbedürfnisse hinaus. On Top zu essen, wohnen und schlafen steht uns auch künftig eine Welt an Produkten und Leistungen offen, die uns regional nicht geboten werden kann. Und diese Welt wird mit allen Tricks um uns und einen möglichst hohen „share of wallet“ buhlen. Also ehrlich, wie lange glauben Sie werden wir Erdbeeren aus Südafrika im Winter, All-Inclusive-Urlauben auf den Malediven oder Grill-Koteletts fixfertig um 1,99 das Kilo widerstehen können? Ich glaube, die Halbwertszeit unserer guten Vorsätze war, ist und bleibt überschaubar!
To be continued … / Fortsetzung folgt …
Was konkret Unbehagen bereitet:
Es sind nicht die zum Teil sehr gewagten Vorhersagen einer Zukunft, die doch niemand kennen kann. Es ist auch nicht der Umstand, dass hinter vielen Prophezeiungen lediglich der Versuch steckt, Sie für künftige Geschäftsmodelle oder Ideologien zu begeistern. Es ist die bittere Erkenntnis, dass diese Zukunftsinszenierungen auf eine weitgehend unkritische Masse an Menschen treffen. Auf eine Mehrheit in der Bevölkerung, die nicht einmal daran denkt, sich aktiv in die Gestaltung der Zukunft einzumischen. Und das macht richtig Angst!
Was Sie gegen das Unbehagen tun können:
Entwerfen Sie immer Ihr eigenes Bild der Zukunft. Denken Sie dabei mehr in verschiedenen Zukunftsszenarien als in fixen Vorhersagen. Malen Sie sich aus, welche Optionen es heute gibt, die Welt von morgen zu beeinflussen. Hinterfragen Sie, wer welche Änderungen mit welchen Mitteln anstrebt. Tauschen Sie sich mit anderen Menschen dazu aus. Und vor allem werden Sie sich klar darüber, ob Sie die angekündigten Entwicklungen wollen oder nicht. Nur dann haben Sie die Möglichkeit aktiv einzugreifen, also zu gestalten, zu verhindern oder zuzulassen.
Salzburg, 2020/05 – Gerd
Hinweise
Home-Jobbing = Kunstbegriff für Gelegenheitsarbeit von zuhause aus
share of wallet = „Geldtaschenanteil“ = Anteil am frei verfügbaren Einkommen einer Person
Lesetipps
Die Welt nach Corona | diverse Autor*innen | 2020, Zukunftsinstitut GmbH, Frankfurt am Main
Wann lernen Gesellschaften? | Hans Holzinger | 2020, Robert Jungk Bibliothek für Zukunftsfragen, Salzburg | zum PDF »
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