Content-ID: 007|01 | Autor: Gerd | Stand: 18.6.2020
Faszination Zukunft
Ihr Weg durch den Prognosedschungel
Seien wir ehrlich: Wir planen so ziemlich alles in unserem Leben. Dabei ist es egal, ob die Karriere, die Familien, den Urlaub, das Budget, Events oder die persönliche Nach-Corona-Phase. Alles von Belang muss frühestmöglich in unser Leben eingetaktet sein, um irgendwann wahr zu werden. Trotzdem glauben wir oft, Zukunft passiere einfach. Versteht man Zukunft aber nicht nur als Zeitbegriff, sondern auch als vor uns liegenden räumlichen und emotionalen Zustand, dann können wir aktiv auf sie einwirken.
Dann ist es möglich, die eigene Zukunft in die Hand zu nehmen. Es verwundert daher nicht, dass wir wissen wollen, wie jene Zukunft aussehen wird, für die wir längst planen. Es beginnt schon bei jener nächsten Millisekunde, die beispielsweise Amazon für eine Kaufempfehlung braucht. Und es reicht weit über die Zeit hinaus, wenn unsere Kinder ihren Kindeskindern eine geschundene, lebensfeindliche Welt hinterlassen werden. Nicht zu wissen, was die Zukunft bringt, erzeugt bei uns hingegen Unruhe. Aber dagegen lässt sich etwas tun.
Wer plant, denkt nicht nur an die Zukunft, sondern gestaltet sie auch. Und das nicht nur jede*r für sich selbst. Unser aller Planen, Vorbereiten, Organisieren, Tun oder auch Bleibenlassen wird später die ganze Welt verändert haben. Wagen wir jedoch einen weit gefassten Blick auf die Zukunft und erkennen unseren Einfluss darauf, dann beginnen wir unweigerlich, „rückwärts zu planen“. Wenn wir in der Lage sind, uns selbst und die Welt um uns herum in der Zukunft vorstellen zu können, dann wissen wir auch, was zu tun ist, um dorthin zu gelangen. Ich nutze diesen Ansatz selbst – um von einem „Big Picture“ der Zukunft ausgehend – heute anstehende Projekte, Entscheidungen oder Veränderungen zu planen.
Aktuell widmet sich eine Vielzahl an renommierten Forschungseinrichtungen, Think Tanks und Universitäten der Beschreibung von künftigen Zuständen und jener Ursachen, die dazu geführt haben werden. Wer kennt nicht die Prognosen zur Wirtschaftsentwicklung, dem Wetter, dem Klimawandel, der Digitalisierung oder Corona? Es gibt zu fast jedem Thema eine Vielzahl an wissenschaftlich fundierten Vorschauen auf künftige Entwicklungen, Risiken und Chancen. Dringen Sie damit in jene Wissensgebiete tiefer ein, die für die Rahmenbedingungen ihres künftigen Lebens von Belang sind.
Die Vertrauenspyramide
Wie gehen wir persönlich vor, um einen Blick in die Zukunft zu erhaschen? In den meisten Fällen sind es unsere eigenen Erfahrungen, denen wir am meisten vertrauen. Sie lassen uns ahnen, wie die Welt in ein paar Sekunden, Tagen oder Wochen aussehen wird. Wenn etwas hinunterfällt, ist es am Boden. Wenn Sie aus dem Urlaub zurückkehren, werden Sie ausgeruht und etwas dicker sein. Wenn Sie mit Ihrem Nachbarn flirten, bekommen Sie ein Problem. Wenn Sie nicht bis 22:00 Uhr am Bahnhof sind, hängen Sie in Salzburg fest. Sie sehen: Wir schätzen künftige Zustände im Alltag öfter ein, als uns eigentlich bewusst ist.
Wenn die eigene Erfahrung nicht reicht, ziehen wir die Erfahrung anderer Menschen hinzu. Oft geschieht das über das Internet und durch klassische Medien. Oder wir lassen es uns erzählen. Wie wird das Wetter? Wie sind die Wirtschaftsaussichten? Wann kommt das neue iPhone? Wie heftig wird die 2. Corona-Welle? Ist der neue Job krisensicher? Wo spielt David Alaba nächste Saison? Dabei sind wir uns jedoch nicht immer sicher, ob wir den Prognosen anderer Menschen vertrauen sollen. Das verleitet uns dazu, eigene Hypothesen den Erfahrungen Fremder vorzuziehen. Damit beginnen wir, auf dieser Ebene zu spekulieren.
Das setzt sich fort, wenn wir in größeren Zusammenhängen denken (müssen). Es muss nicht immer die ganze Welt von morgen sein, um an eigene Grenzen der Vorhersage zu stoßen. Das beginnt bei kniffligen beruflichen Projekten und reicht über Lebensentscheidungen bis hin zu Corona, dem Klimawandel oder der drohenden Wirtschaftskrise. Wir werden, mit steigender Komplexität eines Themas, immer abhängiger von externem Wissen. Reicht das Wechselspiel von Ursache und Wirkung über mehrere Fachgebiete hinweg, sind wir zudem mit verschiedenen Meinungen, Interpretationen und Ideologien konfrontiert. Das macht den neutralen Blick auf ein Problem fast unmöglich. Wir können uns dann entweder für eine Richtung entscheiden oder (siehe oben) eigene Hypothesen aufstellen. Im Falle des Klimawandels habe ich mich z.B. für einen „Point of General Understanding“ entschieden. Dieser erleichtert es mir, mich einigermaßen treffsicher mit den künftigen Anforderungen zu diesem Thema auseinander zu setzen.
Aktuell sind wir mit einer Vielzahl von Krisen und Entwicklungen konfrontiert, die unsere direkte Lebenswelt langfristig prägen werden. Zur Bewältigung dieser Herausforderungen arbeiten Wissenschaft und Forschung längst an Modellen, die uns erahnen lassen, wie die Zukunft aussehen wird. Viele dieser Theorien mögen ihre Schwächen haben und sind nicht immer unumstritten. Mit etwas Hausverstand hinterfragt, geben sie uns aber einen guten Überblick von dem, was für uns in den kommenden Jahren relevant sein wird. Sie zeigen uns jene künftigen Rahmenbedingungen, in die wir, mit unseren kleinen und großen Projekten, längst hineinplanen.
Keine Scheu vor großen Themen
Ich habe nicht vor, mich hier mit eigenen welterklärenden Prophezeiungen wichtig zu machen. Abgesehen davon, dass mir diese Aufgabe ein paar Nummern zu groß wäre: Sie ist bereits in besten Händen! Es gibt zahlreiche gescheite Menschen, quer über den Globus verstreut, die sich der wissenschaftlich fundierten und damit seriösen Forschung verschrieben haben. Sie haben längst plausible Zukunftsmodelle entwickelt, die in Expert*innen-Kreisen offen und auch kritisch diskutiert werden. Aus meiner Sicht ist es weit ergiebiger, sich mit diesen Forschungsergebnissen auseinander zu setzen, als an eigenen Hypothesen zu feilen. Das hindert jedoch nicht daran, diese Zukunftsmodelle und deren Deutung zu vergleichen und kritisch zu hinterfragen. Nur so lassen sich sachlich neutrale Beiträge von manipulativen unterscheiden, die aus persönlichen, geschäftlichen oder politischen Eigeninteressen gestreut werden. Und es versetzt in die Lage, mögliche Auswirkungen globaler Entwicklungen in der eigenen Planungsarbeit zu berücksichtigen.
Es sollte uns bewusst sein, dass auch die plausibelsten Vorhersagen selten so konkret eintreten werden, wie sie formuliert wurden. Trotzdem bieten sie oft ein grundlegendes Gespür für Ursachen und Wirkungen, aber auch für Zusammenhänge und Trends, die für künftige Situationen schon jetzt von Bedeutung sind. Ich habe Ihnen dazu eine kleine Auswahl an Studien und Beiträgen in der Rubrik „Lesetipps | Links“ zusammengestellt.
Beispiel: Erkenntnisse aus Corona in Österreich
Mit dem Shutdown des öffentlichen Lebens in Österreich Anfang März 2020 wurde eine regelrechte Flut an Prophezeiungen losgetreten, was sich wie nach der Krise wohl geändert haben wird. Ob diese jemals eintreten werden, steht noch in den Sternen. Aber auch schon während der Zeit des Krisenmanagements mussten die Expert*innen-Teams in der Regierung die absehbaren Entwicklungen in naher und fernerer Zukunft im Auge behalten, also vorhersagen. Und zwar nicht nur das Virus selbst betreffend, sondern alle Lebensbereiche, die unter dem Shutdown zu leiden hatten. So wurde die medizinische Versorgung, aber auch Schulen, Universitäten, Kultur, Sport, Freizeit u.v.m. regelrecht ausgeknipst. Zudem kam die Wirtschaft fast zum Stillstand. Viele Menschen verloren entweder ihre Jobs oder Teile ihres Einkommens. Den Unternehmen brach der Umsatz weg und die Liquidität für Löhne, Kosten und Investitionen rauschte gegen Null.
Jetzt hätte diese Krisenszenerie allein schon ausgereicht, uns Bürger*innen in Panik zu versetzen. Trotzdem wurde seitens der Politik noch kräftig an der Hysterie-Schraube gedreht. Ob aus überschießender Sorge um die Bürger*innen oder mangels eines Planes, sei dahingestellt. Insbesondere die Corona-Brandrede des Bundeskanzlers Ende März, in der von 100.000 Todesopfern gesprochen wurde, war scheinbar damals schon und ist auch heute noch umstritten1). Immerhin wurde damit, obwohl der Expert*innen-Stab zu Deeskalation geraten hatte, auch negativ Einfluss auf künftige Entwicklungen genommen. Denn wer sich die Zukunft schlecht redet, wird wenig zu einer positiven Entwicklung beitragen. Ich werte z.B. das anhaltende Stocken des privaten Konsums, das grassierende Mistrauen der Menschen untereinander, das Aufbauen von (finanziellen) Reserven etc. als direkte Reaktion der Österreicher*innen auf diese Eskalation.
Wir sehen aber auch deutlich die mögliche Bandbreite bei der Beurteilung und Beeinflussung zukünftiger Situationen. Im erlebten Corona-Krisenmanagement wurde (meiner Einschätzung nach) eher nach einem Ursache-Wirkung-Prinzip vorgegangen. Schritt für Schritt: Möglichst gesicherte Erkenntnisse und (sehr) kurze Prognosezeiträume für eingegrenzte Problemfelder machen Einzel-Entscheidungen treffsicher. Das erklärt auch die Vielzahl an Pressekonferenzen zu eher überschaubaren Entwicklungsschritten. Diese Strategie hat wohl auch dafür gesorgt, dass in Österreich wenige Menschen am Virus sterben mussten. Das ist an dieser Stelle anzuerkennen! Sie erzeugte aber auch heftige Kollateralschäden. Einerseits entsteht durch die Nichtbehandlung paralleler Probleme (z.B. Aussetzen der medizinischen Langzeitversorgung) ein Lösungsstau. Andererseits werden durch das Vertagen von interdisziplinär abgestimmten Strategien neue, teils größere Probleme geschaffen (z.B. die langfristig prekäre Wirtschaftslage).
Wäre es also möglich gewesen, zumindest begleitend zur Akut-Strategie, mehr auf das „Big Picture“aao) zu setzen? Ich vermute (kann es aber nicht beweisen), dass man das sogar versucht hat. Dass hunderte Expert*innen zu allen relevanten Fragen der Wirtschaft, des Staates und der Gesellschaft bereitstanden und auf ihren Einsatz gewartet haben. Lediglich scheinen sie nie, in gestaltender Rolle, in den Ring geholt worden zu sein. Trotzdem muss die Frage erlaubt sein, ob nicht mit einer fachlich (und international) koordinierten Krisenbewältigung, bei niedriger Todesrate, der Prognosezeitraum für eine Rückkehr ins normale Leben deutlich kürzer hätte ausfallen können. Oder im Klartext: Müssten dann die Rettungspakete derart hoch dotiert werden? Wären in anderen Ländern mehr Menschen zu retten gewesen? Müsste man tatsächlich erneut um Kompromisse beim Klimaschutz und zu Wohlstandsfragen feilschen? Säßen wir nicht heute schon wieder im Theater oder im Fußballstadion? Ich habe zwar eine Meinung dazu, kann Ihnen diese Fragen aber nicht endgültig beantworten. Ich freue mich daher schon auf die kommenden Analysen und Diskussionen in Expert*innen-Kreisen.
Rückblickend versichern uns jetzt viele Menschen, die in die damaligen Entscheidungen eingebunden waren, dass die gewählte Vorgehensweise alternativlos gewesen sei. Zum einen musste man rasch agieren. Zum anderen hatte das Überleben gefährdeter Menschen alleroberste Priorität. Aus der Sicht der damaligen Entscheider*innen mag all das sinnvoll gewesen sein. Ihnen jetzt Vorwürfe zu machen, wäre daher weder angebracht noch fair. Jedoch alternativlos, wie oft behauptet, war das Corona-Krisenmanagement (wahrscheinlich weltweit) nie. Nicht nur aus heutiger Sicht, weil es leicht ist, im Nachhinein alles besser zu wissen. Man hatte schon damals mehrere Handlungsoptionen, von denen man wusste, dass sie zu weniger drastischen Situationen in vielen Lebensbereichen geführt hätten, als wir sie heute erleben. Und diese Alternativen lagen damals schon offen auf dem Tisch.
1) Falter 25/20 | 17.6.2020 | Seiten 12-15 | „Die zweite Welle darf uns keine Angst machen“, Interview von Barbara Toth mit Mathematiker Nikolaus Popper und Public Health-Experten Martin Sprenger
Was konkret Unbehagen bereitet:
Es ist die unverfrorene Art und Weise, mit der die Prognose von künftigen Entwicklungen zum eigenen Vorteil missbraucht wird, die mir Unbehagen bereitet. Es geht zu oft darum, anstatt wissenschaftliche Erkenntnisse in die Diskussion einzubringen, sich zählbare Vorteile zum eigenen Wohl in der Zukunft zu sichern – auch auf Kosten anderer Menschen. Dazu zählt das Lancieren vermeintlicher Gefahren, Chancen und Trends ebenso wie das manipulative Nutzen von Fakes und Fakten. Bringen soll es nachhaltigen unternehmerischen oder politischen Erfolg einzelner. Für die Allgemeinheit bringt es hingegen wenig.
Was wir gegen das Unbehagen tun können:
Wir haben es in der Hand! Machen wir uns selbst zukunftsfit und lernen die Welt aktiv zu gestalten. Hören wir damit auf, die Zukunft als gegeben anzunehmen. Überwinden wir die Angst vor aufgebauschten Bedrohungen und fiktiven Risiken. Verzichten wir darauf, künstlich erzeugten Trends nachzulaufen und mitzuhelfen eine Zukunft zu gestalten, die so nicht für uns gedacht ist. So viel Selbstbewusstsein traue ich uns allemal zu!
Salzburg, 2020/06 – Gerd
Anmerkung
Big Picture = engl. „großes Bild“ | gemeint ist ein breiter Überblick über große, weitreichende Zusammenhänge zu einem Thema
Think Tank = gemeint ist eine „Denkfabrik“
Hypothese = (noch) unbewiesene Annahme oder Behauptung
Point of General Understanding = Punkt des gemeinsamen Verständnisses | Link auf Klimawandel kompakt »
Kollateralschäden = in Kauf genommene, begleitende Schäden an anderer Stelle
interdisziplinär = mehrere Fachbereiche betreffend
Lesetipps
Super Forcasting | Die Kunst der richtigen Prognose | Philip E. Tetlock, Dan Gardner | 2016, Fischer Verlag, Frankfurt
Die Welt nach Corona | diverse Autor*innen | 2020, Zukunftsinstitut GmbH, Frankfurt am Main
Wann lernen Gesellschaften? | Hans Holzinger | 2020, Robert Jungk Bibliothek für Zukunftsfragen, Salzburg | zum PDF »
Interessante Links
Wirtschaftsforschungsinstitut »
Point of General Understanding | Klimawandel Kompakt »
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