Content-ID: 009|01 | Autor: Gerd | Stand: 2.7.2020

Mobile Visionen

Mobilität ist das Thema des Jahrzehnts

Es gibt wohl keine Branche, zu deren Zukunft so viele Versionen im Umlauf sind, wie die Mobilitätsbranche. Das ist, angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung des Themas, durchaus verständlich. Wo aber liegt in 20-30 Jahren tatsächlich der Bedarf der Menschen und wo sind die Grenzen des Machbaren? Sicher scheint nur zu sein, dass Mobilität, wie sie heute vielfach vorhergesagt wird, nicht zwingend etwas mit der künftigen Wirklichkeit zu tun haben muss. Warum aber?

Mit dieser Fragestellung steige ich direkt in das Thema ein. Kommen Sie mit, auf eine Expedition zu spannenden Mobilitätskonzepten der Zukunft. Aber Achtung, es müssen nicht die lautesten Anbieter*innen, die stärksten Geschäftsmodelle und üblichen Lösungen sein, die uns auch in 20-30 Jahren in Bewegung halten werden. Im Gegenteil: Die Chance, dass die künftigen Anforderungen an „Mobilität“ und „Transport“ sich von den heutigen unterscheiden werden, ist groß. Dann aber gilt es auch, Mobilitätsbedarfe, Verkehrskonzepte und Transporttechniken grundlegend neu zu denken. Ich bin gespannt, ob unter diesen Gesichtspunkten alle aktuellen technischen, wirtschaftlichen und politischen Weichenstellungen für die Mobilität und den Verkehr auch in absehbarer Zukunft noch Bestand haben werden.

Wären nicht die Umwelt und die Klimakrise, es wäre die Diskussion um Mobilitätskonzepte der Zukunft eine technisch und logistisch geprägte. So aber sind zur Rettung des Planeten, auch im Verkehrsbereich, radikale Umbrüche gefordert. Hier spielen die Reduktion der Treibhausgas-Emissionen, die Schonung von Ressourcen und die Nutzung von Verkehrsflächen eine bedeutende Rolle. Was sich dabei schon heute abzeichnet ist, dass durch die reduzierte Nutzung und Verbesserung bestehender Lösungen nicht ausreichend Erfolge zu erzielen sein werden. Wir werden daher in Zukunft eher mit heute noch ungewohnten Lösungen unseren Mobilitätsbedarf decken.

Mobilität ist mehr als Antriebstechnologie

Die Technik widmet sich bereits heute alternativen Kraftstoffen, Antriebskonzepten und der Speicherung von Energie. Damit soll vorrangig im Straßenverkehr (Personen und Güter) der Schadstoffausstoß reduziert werden. Aber auch im Flug- und Schiffsverkehr sind grüne Lösungen bereits in Arbeit. Bis jedoch Klimaneutralität erreicht wird, sind nicht nur antriebstechnisch noch einige Rätsel zu lösen. Auch die Energiebilanz für die Produktion der Verkehrsmittel und die Gewinnung der verwendeten Kraftstoffe ist noch weit negativ. Darüber hinaus hat sich die Digitalisierung im Thema Mobilität breit eingerichtet. Insbesondere Big Data, in Kombination mit künstlicher Intelligenz (KI), sind der Schlüssel zu autonomem Fahren und effizienter Verkehrskoordination. Aber auch der Einsatz neuer Transportmittel wie Drohnen oder die Verbesserung der Transportlogistik findet in der Digitalisierung seinen Ursprung. Hier wird die Vision, Mobilität ohne Zutun des Menschen möglich zu machen, tagtäglich mehr zur Realität.

Demgegenüber findet sich jedoch die Erkenntnis, dass wir als wachsende Bevölkerung und mit zunehmendem Wohlstand die Erde weit über Gebühr ausbeuten. Wir haben einen Lebensstil entwickelt, der für die verfügbaren Ressourcen einfach zu intensiv ist. Daraus entspringt die Forderung, sich mit der Natur und in der Gesellschaft effizienter abzustimmen, um auch langfristig ein gutes Auskommen zu sichern. So sind auch Denkansätze wie Verzicht, Reduktion und Rückentwicklung in der Diskussion stark vertreten. Dies wiederum steht auf den ersten Blick in Widerspruch zur oben beschriebenen technischen und digitalen Revolution. Aber schließt sich beides tatsächlich aus? Sind wir nicht auf der Suche nach neuartigen, durchaus disruptiven Lösungen, die uns aus dieser verfahrenen Situation befreien können? Immerhin braucht es anderes als das Gewohnte, um das Dilemma zwischen grenzenlosem Fortschritt und sinnvoller Dimension zu meistern.

Dazu müssten wir jedoch wissen, wie die Welt aussehen wird, in der die bereits heute in Angriff genommenen Lösungen wirksam werden sollen. Auch in der Zukunft wird unser Bedarf an Mobilität von unseren Lebensräumen, Aufgaben und Gewohnheiten bzw. Ansprüchen abhängen. Künstlich erzeugte Bedürfnisse werden dabei wohl eine untergeordnete Rolle spielen. Daher hätte die erste Frage am Beginn der Innovationswelle sein müssen, was es künftig braucht und nicht, was möglich ist. Wie aber konnte es dann dazu kommen, dass wir heute schon lautstark fordern und mit Hochdruck entwickeln, ohne wirklich sicher zu sein, wo die Reise hingeht?

Das liegt daran, dass die meisten Trends aus dem Hier und Heute in die Zukunft extrapoliert werden. Dafür sind zwar auch konkrete Vorstellungen von den Rahmenbedingungen der Zukunft notwendig. Es dominiert jedoch der Erkenntnisstand der Jetzt-Zeit. In vielen Mobilitätsszenarien werden Trends fortgeschrieben, um Wünschen und Forderungen an die Zukunft Nachdruck zu verleihen. Insbesondere der Klimaschutz gibt strenge Ziele für die Mobilität der Zukunft vor. Ob wir diese jedoch mit unserem heutigen Repertoire erreichen können, wage ich zu bezweifeln. Trend-Explorationen führen nämlich oft zu „More of the same“-Szenarien oder zu einer modifizierten Version „einer guten alten Zeit“. So wird z.B. aktuell der Ausbau des öffentlichen Personen-Nahverkehrs über Bahn- oder Buslinien eingefordert. Ob zur Deckung des Mobilitätsbedarfes der ferneren Zukunft jedoch derartige Verkehrskonzepte sinnvoll bleiben, steht in den Sternen. Ist es nicht wahrscheinlicher, dass künftige Technologien öffentlich zugängliche Mobilitätskonzepte flexibler, effizienter und kostengünstiger werden lassen als bisherige?

Hier hilft eine ergänzende Art der Vorhersage, bei der der Fokus direkt auf die Welt der Zukunft gelegt wird. Daraus entstehen auch in Zusammenhang mit Mobilität Fragen nach der Arbeitswelt, den Lebensumständen, dem verfügbaren Einkommen, dem Gesundheitszustand, der sozialen Einbindung oder dem Konsum etc. Ganz ehrlich: Glauben Sie, unsere Urenkel werden in ihrer Welt unter „Mobilität“ noch dasselbe verstehen wie wir heute? Ich glaube das nicht. Deshalb gibt es auch viele Szenarien, die ausgehend von einem zukünftigen „Big Picture“ in die Jetztzeit „rückwärts planen“. Denn nur, wer sich vorstellen kann, was gebraucht wird und was möglich ist, kann auch die nötige Innovationskraft in diese Richtung lenken.

Selbstverständlich sind jene Forschungen, die sich aus heutiger Sicht mit der Mobilität der Zukunft befassen, höchst seriös. Und sie sind zumindest so treffsicher, wie die oben beschriebene „Rückwärtsplanung“. Auch deshalb, weil sie massiv Einfluss auf die Gestaltung künftiger Bedingungen nehmen. Genauso spannend empfinde ich es aber, sich gedanklich mit den Erwartungen unserer Folgegenerationen auseinanderzusetzen. Ich bin mir sicher, dass wir in künftigen Lebensräumen mit vielen Mobilitätsangeboten, die wir aus dem Heute mitnehmen, nicht glücklich werden. Wir werden neue Bedarfe und Situationen vorfinden, die moderner, neuartiger Lösungen bedürfen. Und wir werden dazu Techniken zur Verfügung haben, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können.

Was konkret Unbehagen bereitet:

Unbegrenzte Mobilität wird in Zukunft zum Privileg besser gestellter Personen werden. Aktuell fließen Unmengen an Kapital und Innovationskraft in mobile Geschäftsmodelle der Zukunft. Die jedoch haben weniger das Mobilitätsbedürfnis aller im Fokus. Vielmehr sieht es so aus, als würden künftige technische Meisterleistungen wenigen vorbehalten bleiben. Die Umweltverträglichkeit und Massentauglichkeit künftiger Verkehrskonzepte müssen jedoch durch Zugeständnisse der wenig begüterten Mehrheit der Bürger*innen sichergestellt werden.

Was wir gegen das Unbehagen tun können:

Es fehlt im Rahmen der Mobilitätsentwicklung noch an disruptiven Effekten. Wie bereits in anderen Branchen, wo Neuerungen etablierte Geschäftsmodelle ausgehebelt haben, stehen Umwälzungen zu diesem Thema noch aus. Ich schließe nicht aus, dass innovative Köpfe und die großen IT-Giganten Techniken und Logiken entwickeln, die komplett andere Ansätze als die heute bekannten verfolgen. Ich glaube sogar, dass in den Laboren vieler Unternehmen schon am Undenkbaren gearbeitet wird.

 

Salzburg, 2020/07 – Gerd

Hinweise

KI = Vergleiche dazu den Blog-Beitrag: https://unbehagen.at/002-digitalisierung-kompakt/

disruptiv = zerstörend | gemeint ist das Verdrängen bekannter Geschäftsmodelle

Extrapolation = Fortschreibung | Hochrechnung

More of the same = engl. für „Mehr vom Gleichen“

Big Picture = englisch „großes Bild“ | gemeint ist ein großer Zusammenhang

rückwärts planen = Vergleiche dazu den Blog-Beitrag: https://unbehagen.at/007-faszination-zukunft/

Lesetipps

No Car – Streitschrift für die Mobilität der Zukunft | Salomon Scharffenberg | 2019, oekom Verlag, München

Mobilität der Zukunft – Szenarien der Fortbewegung in Deutschland 2035 | Lesley Bilger | 2018, ScienceFactory

Smart Mobility – Trends, Konzepte, Best Practices für die intelligente Mobilität | Barbara Flügge | 2016, Springer Vieweg

to be continued …

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