Content-ID: 010|01 | Autor: Gerd | Stand: 9.7.2020
Das Antibiotika-Dilemma
Wenn sich gefährliche Keime gegen uns schützen.
Corona hat uns wieder einmal schmerzlich gezeigt, wie abhängig wir Menschen von Medikamenten zur Behandlung einer Vielzahl von Krankheiten sind. Fehlen Präparate, haben wir ein Problem. Und es fehlt immer öfter an Behandlungsmöglichkeiten. So müssen aktuell nicht nur Wirkstoffe gegen neuartige Erreger gefunden werden. Auch Mittel gegen bekannte Leiden verlieren zunehmend an Wirkung und müssen ersetzt werden. Doch dagegen ließe sich leicht etwas tun!
Die Natur in ihren kleinsten Bestandteilen macht genau das, was die großen Tiere und Menschen auch tun. Sie passt sich an. So entwickeln auch Viren und Bakterien Resistenzen bzw. verändern ihren Bauplan, um sich selbst zu schützen. Damit entziehen sie sich auch der Wirkung der vom Menschen entwickelten Medikamente. Eine Gruppe dieser Wirkstoffe sind Antibiotika, die gegen Infektionen aller Art eingesetzt werden können. Dagegen werden jedoch zunehmend jene Keime resistent, die damit bekämpft werden sollen. Das hat für uns alle ernste Konsequenzen. Was meinen Sie: Wollen wir den Feind stoppen oder kapitulieren?
Um rechtzeitig mit einem Irrtum aufzuräumen: Antibiotika-Unverträglichkeit ist NICHT Antibiotika-Resistenz. Eine Unverträglichkeit tritt dann auf, wenn Sie Medikamente nicht ohne erhebliche Nebenwirkungen einnehmen können. So unangenehm das ist, eine Unverträglichkeit ist Ihr Problem. Eine Antibiotika-Resistenz beschreibt hingegen den Effekt, dass Keime allgemein nicht mehr auf den Einsatz von Antibiotika reagieren und weiterwirken. Das bedeutet, Sie könnten im Krankheitsfall Antibiotika zu sich nehmen, so viel Sie wollen, aber diese helfen nicht. Sie werden damit unbehandelbar. Das ist zwar wieder Ihr Problem, aber auch eines des weltweiten Gesundheitswesens.
Keime entwickeln zudem nicht nur Resistenzen gegen Antibiotika, sondern auch gegen andere Mittel, die zur Behandlung eingesetzt werden. Daraus entstehen multiresistente Keime (MRSA), die vermehrt in Krankenhäusern vorkommen und Opfer fordern. So wurden laut der Zeitschrift „Die Zeit“ 2015 in Europa ca. 700.000 Personen mit MSRA infiziert, Zwei Drittel davon in Krankenhäusern. 33.000 Menschen starben an den Folgen dieser Infektionen. Besorgniserregend daran ist, dass ein Gutteil dieser Keime bereits gegen die letzten, nur für Menschen reservierten, Reserve-Antibiotika der Welt resistent geworden ist.
Einige Fakten zu Antibiotika
Antibiotika sind Wirkstoffe, die gegen bakterielle Infektionen eingesetzt werden. Sie wirken dabei auf die Keime wachstumshemmend oder sie töten sie ab. Sie helfen jedoch nicht gegen virale Erkrankungen, wie z.B. Corona, Grippe oder Ähnliches. Das bekannteste Antibiotikum ist das Penicillin, das in mehreren Unterarten eingesetzt werden kann. Wir kennen Antibiotika u.a. aus dem Kampf gegen Wundinfektionen, Zahnschmerzen oder Entzündungen der Lunge, Hirnhaut, Blase u.v.m. Damit gehören Antibiotika zu den wichtigsten Wunderwaffen der modernen Medizin und gelten als unverzichtbar. Es wird jedoch empfohlen, Antibiotika nur in Fällen zu verschreiben, in denen es keine Behandlungsalternativen gibt. Nur der reduzierte Einsatz antibiotischer Medikamente verhindert Nebenwirkungen und das Entstehen von resistentenaao) Keimen.
Allerdings werden Antibiotika nicht nur in der Human-Medizin verwendet. Auch bei der Behandlung von Tieren kommen sie zum Einsatz. Und das sowohl als Mittel gegen bereits ausgebrochene Infektionen als auch prophylaktisch. So sollen mit der großzügigen Anwendung von Antibiotika in der Massentierhaltung mögliche Erkrankungen bei Tieren schon im Vorfeld verhindert werden. Betroffen davon sind so ziemlich alle Tierarten, die in großem Stil gezüchtet werden: Rinder, Schweine, Hühner, Fisch, Shrimps u.v.m. Damit ermöglicht man auch die Haltung und den Transport von lebenden Tieren unter beengten und hygienisch bedenklichen Bedingungen. Das wiederum fördert die Entstehung von resistenten Keimen.
So wirksam und nachgefragt Antibiotika sind, so wenig gewinnbringend ist die Produktion dieser Wirkstoffe heutzutage. Aktuell kostet ein Kilogramm Antibiotikum so viel wie 1 kg Kaugummi. Das macht den Wettbewerb der teuren europäischen mit der billiger produzierenden, chinesischen Pharmaindustrie aussichtslos. Die Einstellung der letzten europäischen Penicillin-Produktion steht damit unmittelbar bevor. Zudem liefert die Forschung nach neuen Antibiotika nicht die nötigen Ergebnisse, um langfristig ausreichend Wirkstoffe, auch gegen mutierte Keime, zu entwickeln. Zwar werden laufend neue Mittel entdeckt. Um jedoch den Wettlauf mit der rasanten Veränderung der Bakterienstämme zu gewinnen, sind das aber eindeutig zu wenige.
Antibiotika-Resistenz und Fleischindustrie
Was haben jetzt Tierhaltung und Fleischproduktion mit Antibiotika-Resistenz zu tun? Keime, die Tiere befallen, sind auch für den Menschen gefährlich. In der Tierhaltung werden jedoch Antibiotika kaum auf Rezept und in Einzelfällen verabreicht. Sie werden in Massen verwendet. Der unmäßige Antibiotika-Einsatz vervielfacht wiederum die Gelegenheiten, in denen sich tödliche Keime entwickeln können. Das macht es besonders schwierig, alle Bakterienstämme behandelbar zu halten. Deshalb musste sich die Forschung in den letzten zehn Jahren fast ausschließlich auf die Entwicklung von sogenannten „Problem-Keimen“ konzentrierenaao). Diese Keime sind für Erkrankungen verantwortlich, die nicht mehr behandelbar sind, obwohl sie es einmal waren.
Selbstverständlich ist in der EU der Einsatz von Antibiotika in der Fleischproduktion bis zu einem gewissen Maße reglementiert. Diese Regeln haben jedoch Schwächen und Hintertüren. So sind hygienisch zweifelhafte Zustände in der Massentierhaltung, wie wir sie aus den Medien kennen, nur mit Einsatz von Antibiotika einigermaßen regelkonform zu bewältigen. Dabei geht es den Betreiber*innen oft nicht darum, Tiere artgerecht und gesund, sondern nur solange am Leben zu halten, bis sie geschlachtet werden können. Sie werden nicht glauben, wie erbärmlich es vielen jener Tiere ergangen ist, aus denen letztendlich Ihr Schnitzel geschnitten wurde. Auch nicht, dass mutierte Keime über Schlachthöfe und Fleischfabriken immer öfter auf die Teller der Konsument*innen gelangen.
Dabei wäre es gut machbar, Tiere soweit artgerecht zu transportieren und zu halten, dass der Einsatz von Antibiotika drastisch reduziert werden könnte. Wie so oft, ist dafür aber eine Änderung des Systems notwendig. Auch wenn viele (kleinere) Betriebe vorbildlich agieren, konzentriert sich die Fleischindustrie vorwiegend auf die Menge und nicht auf die Qualität der Ware. So sprechen Insider davon, dass eine Schweinemast nur dann lukrativ wäre, wenn 3 Mal pro Jahr „geerntet“ werden könnte. Das bedeutet für die Zuchtbetriebe, Jungschweine auf engstem Raum binnen 4 Monaten zu Fleischbergen werden zu lassen. Verzögerungen und Krankheiten sind keine Option.
Die EU schüttet aktuell rund 60 Milliarden Euro jährlich an Agrar-Subventionen aus. Davon geht ein beträchtlicher Teil in die Fleischproduktion. Immerhin ist sie für 40 % des landwirtschaftlichen Produktionswertes in Europa verantwortlich. Im Fokus dieser Subventionen stehen vor allem Zucht- und Verarbeitungskapazitäten für Nutztiere. Direktprämien für tiergerechte Haltung (auch bei kleineren Betrieben) sind dabei zwar möglich, spielen aber (noch) keine Rolle. Diese Ausrichtung der Fördergelder auf die Massentierhaltung führt zu einer Überproduktion, die entweder durch Exporte in den Markt geschleust oder entsorgt werden muss. So landen in Deutschland geschätzt 11.000 Schweine täglich im Müll, weil sie verendet sind oder nicht benötigt werden. Jetzt in einer Weltgegend wie Europa, in der 30 % der Lebensmittel weggeworfen werden, von Nahrungsreserven zu sprechen, wenn derartige Mengen an Fleisch zwar produziert, jedoch entsorgt werden, ist zynisch. Insbesondere dann, wenn sich diese Überkapazitäten direkt negativ auf die Qualität der verarbeiteten Tiere auswirken. Selbst jene Menschen, denen Tierwohl in der Nutztierhaltung kein besonderes Anliegen ist, sollten spätestens jetzt die Gefahr erkennen, die von der Massentierhaltung auf unsere Gesundheit ausgeht: Zu viele Tiere auf zu wenig Platz erfordern den übermäßigen Einsatz von Antibiotika. Und der macht tödliche Keime resistent.
Grundsätzlich würde sich ein Gesundschrumpfen der Fleischproduktion auch positiv auf eine Reihe anderer bedenklicher Entwicklungen auf dieser Erde auswirken. So ließen sich im Rahmen des Klimaschutzes auch Urwald-Rodungen für den Tierfutter-Anbau, unnötige Tiertransporte oder die Emission von Treibhausgasen (vorwiegend Methan) entscheiden reduzieren2). Als Strategie gegen Antibiotika-Resistenzen sind eine artgerechte, infektionsfreie Tierhaltung, eine regionale Fleischproduktion und ein bedarfsgerechtes Produktionsvolumen aber auf jeden Fall erste Wahl. Sie sind schlichtweg die einfachsten, kostengünstigsten und wirkungsvollsten Ansätze, die wir haben. Dazu müsste aber die EU als Fördergerberin ihren Fokus von der Menge auf die Qualität und das Tierwohl legen und eine regionale, kleiner strukturierte Fleischproduktion gerechter subventionieren. Damit ließen sich sowohl die Lebensbedingungen der Tiere als auch die Fleisch-Preise erträglich gestalten. Vor allem aber wäre einer explosionsartigen Ausbreitung antibiotika-resistenter Keime über das Lebensmittel Fleisch ein Riegel vorgeschoben.
1) 11.000 Schweine täglich sind rund 1/5 der gesamten Schweineproduktion Deutschland: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/tierhaltung-13-millionen-schweine-landen-im-muell-1.3917126
Was konkret Unbehagen bereitet:
Es ist die naive Art, wie wir Menschen ein sehr ernst zu nehmendes Problem schaffen und uns nicht überwinden können, etwas dagegen zu unternehmen, die mir Sorgen bereitet. Es mag daran liegen, dass sich niemand in der politischen Führungselite angesprochen fühlt, hier voranzugehen. Vielmehr aber scheint die Gestaltungsmacht ganz in den Händen geschäftstüchtiger Lobbyist*innen1) zu liegen. Immerhin sind massive wirtschaftliche Interessen einer ganzen Branche betroffen, die sich lieber im unsauberen Wettbewerb aufreibt, als zu einer gemeinsamen Lösung zu finden. Im Gegensatz zu vielen anderen Veränderungen, die im Rahmen des Umwelt- und Klimaschutzes noch auf uns zukommen, wären Maßnahmen gegen resistente Keime die leichtere Übung. Nur anpacken will sie halt niemand!
Was wir gegen das Unbehagen tun können:
Es ist eine andere Unkultur, die sich gerade in unserer Gesellschaft breit macht, die die Fleischindustrie zum Umdenken zwingen wird. In letzter Zeit wird es auch in Europa zur Gewohnheit, alles und jede*n vor Gericht zu klagen. Ganz besonders verlockend wird das, wenn hohe Beträge an Schadenersatz und Wiedergutmachung erstritten werden können. Und was eignet sich besser als unzureichende Kontrollen, mangelnde Hygiene oder Betrug mit gesundheitlichen Folgen, um unredliche Unternehmen vor Gericht zur Vernunft zu bringen? Es braucht nur die passenden Gesetze dazu – und die werden wir noch bekommen.
Salzburg, 2020/07 – Gerd
Hinweise
Resistenz = Widerstandsfähigkeit
Antibiotikum = Mittel gegen Infektionen, zur Unterstützung des köpereigenen Immunsystems
Human-Medizin = Medizin am Menschen
Prophylaktisch = vorbeugend
Mutiert = im Erbgut verändert | hier: genetisch gegen Antibiotika unempfindlich gewordene Keime
Lobbyist = Person, die im eigenen Interesse Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen versucht
Lesetipp
Agrar-Atlas 2019: Daten und Fakten zur europäischen Landwirtschaft | Heinrich Böll-Stiftung | Zur Webseite » | Zum Download »
Interessante Link
Verband forschender Arzneimittelhersteller: https://www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/antibiotika/neue-antibiotika
BUND.net | friends of the earth germany | Industrielle Tierhaltung braucht Antibiotika – und erhöht das Risiko resistenter Bakterien »
ORF.at | Antibiotikaresistenz auf dem Vormarsch »
Germanwatch.org: Antibiotikaresistente Erreger aus Tierhaltungen – Risiken müssen endlich verringert werden »
ZDF.de | Die Gute Pute – Hinter den Kulissen der Geflügelindustrie: Zum Beitrag und Film »
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