Content-ID: 015|01 | Autor: Gerd | Stand: 13.8.2020

Neoliberal Wirtschaften

Mehr Wettbewerb, weniger Staat

Es ist ungewöhnlich, aber wahr: Für Neoliberalismus existiert tatsächlich keine allgemein gültige Definition. Dieser Begriff verweist lediglich auf eine breite Palette möglicher Wirtschafstheorien.  Sie reichen von einer guten sozialen Marktwirtschaft, bis hin zum bösen Turbo-Kapitalismus. Das bedeutet, dass in der öffentlich sehr emotional geführten Diskussion kaum jemand vom Gleichen spricht, wenn Neoliberalismus in Spiel kommt. Aber auf welcher Seite stehen wir selbst? Welche Reaktion löste bei uns der Begriff Neoliberalismus aus: Freude oder Angst?

Beginnen wir doch einfach mit der sehr weit gefassten Beschreibung von Neoliberalismus aus wikipedia: „Neoliberalismus (altgriech.: νέος neos „neu“ und lat.: liberalis „freiheitlich“) ist eine Form des Wirtschaftsliberalismus, die nach den besten Bedingungen für funktionierende Märkte sucht. Dem Staat wird dabei die Aufgabe zugewiesen, die Wettbewerbsordnung festzusetzen.1)

Damit wird auf eine Wirtschaftstheorie aus den 1930ern verwiesen, die seit den 1970ern auch eine politische und damit gesellschaftliche Dimension erhält. Die Kernforderungen des Neoliberalismus auf politischer Ebene umfassen laut Joseph Stiglitz die Rückführung der Staatsquote, die Privatisierung ehemals staatlicher Aufgaben und die Deregulierung des Kapitalverkehrs. Darin liegen für den Staat und für die Unternehmen gewaltige Verlockungen, immer vorausgesetzt das jeweils gewählte neoliberale Konzept würde auch funktionieren.

Tut es aber nicht. Die Praxis zeigt, dass Neoliberalismus in keiner seiner Formen als System zur Wahrung der Interessen aller Anspruchsgruppen taugt. So werden vor allem die negativen Effekte unregulierter, gewinnorientierter Marktmechanismen bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust des Staates kritisiert. Dabei wird einerseits der große Einfluss des Kapitals auf die Märkte anstelle des Staates als bedenklich beurteilt. Andererseits sorgen die Effekte des offensiven Wettbewerbs, die Anfälligkeit des Systems für Krisen und die Ungleichverteilung der Wertschöpfung, inkl. negativer Folgen für das Gemeinwohl und die Umwelt, für schlechte Stimmung.

Daher sollten wir uns vorab, wenn schon nicht auf eine Definition des Neoliberalismus, zumindest auf ein allgemeines Verständnis zum Thema Wirtschaft einigen – [wikipedia]: „Wirtschaft ist die Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen, die der planvollen Befriedigung von Bedürfnissen dienen. Zu den wirtschaftlichen Einrichtungen gehören daher Unternehmen ebenso, wie private und öffentliche Haushalte. Diese Anspruchsgruppen, erweitert um den Kreis der Kapitalgeber*innen, sind voneinander abhängig und daher mit ihren Ansprüchen gleichberechtigt. Das sollte auch für neoliberale Konzepte gelten!

Warum klingt „neoliberal“ so gefährlich?

Neoliberalismus ist wie alle Wirtschaftstheorien, auf dem Papier ein in sich schlüssiges System für Wachstum und globalen Wohlstand. Woran also liegt es, dass mit dem Begriff „neoliberal“ überwiegend negative Emotionen und Erfahrungen verbunden sind? Was läuft falsch, im freien Spiel der Kräfte?

Only big is beautiful!

Wer im Wirtschaftsleben groß ist hat Vorteile! Eine der Trumpfkarten neoliberalen Wirtschaftens ist die Globalisierung. Sie bringt Kosteneffekte durch die Auslagerung von Leistungen in Billiglohnländer und die Möglichkeit, Kapital und Gewinne zu transferieren. Das spart starken Unternehmen Steuern und hebt deren Wettbewerbsfähigkeit. Aber auch die Erschließung ferner Märkte zu „Inlandskonditionen“ und die weltweite Vernetzung der Forschung, der Produktion, der Lieferketten und des Vertriebes, spielen in die Hände der „Global Player“. So profitiert z.B. Deutschlands weltmeisterliche Export-Industrie stark von einer hohen Produktivität, niedrigen Lohn-Stückkosten und ihrer Internationalisierung. Diese Wettbewerbsvorteile liegen überwiegend bei multinationalen Konzernen und „Game Changern“. Das wiederum steigert das Interesse internationaler Investor*innen, mit ihrer berechtigten Hoffnung auf mehr Rendite.

So steuert der freie Wettbewerb der (noch vielen) Unternehmen schrittweise auf ein Angebotsoligopol zu. Wir erleben das heute schon in der IT-Branche bzw. am Lebensmittel-, KFZ- oder Mode-Markt. Die kleineren Mitbewerber*innen können darauf nur mit teurer Qualität oder Nischen-Angeboten reagieren. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der lokalen Unternehmen wird jedoch aus dem Markt gedrängt werden. Wohl gemerkt, aus dem Markt gedrängt und nicht übernommen. Das bedeutet, dass damit wieder Menschen auf den Arbeitsmarkt zurückströmen, die von der global tätigen und digital personaloptimierten Industrie nicht mehr gebraucht werden. Das bedeutet aber auch, dass vielerorts Steuereinnahmen entfallen. Trotzdem heißt es in diesem Fall für die Staaten, helfend einzuspringen. Einerseits mit der Finanzierung von mehr Arbeitslosen. Andererseits mit der Stützung von weniger wettbewerbsfähigen Betrieben, um sie als Arbeitgeber*innen am Markt zu halten. Damit greift der Staat aktiv gegen die negative Wirkung jenes Wirtschaftsmodells ein, dem er zuvor die Rutsche gelegt hatte. Nur tut er das jetzt mit Steuermitteln, die er dringend im Kampf gegen andere Effekte neoliberalen Wirtschaftens brauchen würde.

Das Schönwetter-Programm

Es wäre falsch, zu behaupten, dass die neoliberalen Vordenker dem System keine Mechanismen zur Bewältigung von Krisen mitgegeben hätten. Im Gegenteil: Über die Bereinigung und die Neuordnung der Märkte besäße der Neoliberalismus ausreichend Selbstheilungspotenzial. Im freien Spiel der Kräfte ist, laut Theorie, das Scheitern einzelner Branchen und Unternehmen sogar Teil des Systems. Unter anderem gilt Disruption als Schlüssel für Erneuerung und langfristiges Wachstum. So ist z.B. die deutsche Automobilindustrie gerade gezwungen, ihre Zukunft gegen neue Antriebs- und Mobilitätskonzepte zu verteidigen. Dabei folgt das Kapital den, durch Innovation erzeugten, Turbulenzen so sicher wie das Amen im Gebet und sucht, nach oft hohen Verlusten, neue Wachstumsfelder.

Wirtschaftskrisen finden jedoch, abgesehen von Disruption, Handelskriegen und Finanzwetten auf Staatspleiten, in den seltensten Fällen bewusst inszeniert statt. So stehen aktuell den meisten Unternehmen noch schwierige Zeiten bei der Aufarbeitung der Corona-Pandemie bevor. Aber auch Krisen, als Folge neoliberalen Wirtschaftens selbst, nehmen an Häufigkeit und Wucht zu. So zählen die Dot.Com-Blase zu Beginn der 2000er-Jahre oder die Immobilien-Blase als Auslöserin der Finanzkrise 2008/09 zu den direkten negativen Auswüchsen einer nur halbherzig geregelten Wirtschaft.

Probleme in der Krisenbewältigung bereiten in der Praxis aber auch die Erwartungshaltungen der klassischen Anspruchsgruppen am wirtschaftlichen Erfolg. So ist es dem Kapital egal, wer, an welchem Standort, mit welchen Leistungen für Rendite sorgt. Unternehmen und Arbeitnehmer*innen hingegen verfolgen zeitnahe und standortgebundene Ziele. Das ist unflexibel, aber nachvollziehbar. Wer jedoch an Erfolgskriterien wie Auslastung, Umsatz, Verkauf, Liquidität, Beschäftigung und Einkommen interessiert ist, hat es ungleich schwerer, sich neu zu orientieren. Daher tendieren Unternehmen in der Realwirtschaft eher dazu, sich nach neoliberalen Experimenten in Phasen der Hochkonjunktur staatlichem Schutz anzuvertrauen. Das wiederum kostet Steuergeld, das der Staat dringend im Kampf gegen andere Effekte neoliberalen Wirtschaftens brauchen würde.

Budgetloch für Soziales und Umwelt

Genau hier fehlt das Steuergeld, das der Staat im Kampf gegen andere Effekte neoliberalen Wirtschaftens verbraucht. Aber auch jene Strukturen, die zur sozialen Absicherung der Menschen und zum Schutz der Umwelt so dringend benötigt würden, sind längst den freien Märkten geopfert. So erlagen viele Staaten der Verlockung, systemrelevante Leistungen auszulagern. Das hat jedoch schnell zu Versorgungsengpässen und Krisen geführt. Das Beispiel Großbritannien zeigt aktuell, dass u.a. die Ausgliederung des Gesundheitswesens ein tödlicher Fehler für viele Menschen gewesen ist. Aber auch Deutschland führt uns mit Harz IV eindrücklich vor Augen, wie selbst eine wirtschaftlich solide Gesellschaft sich dazu genötigt fühlt, Wohlstandsgrenzen quer durchs Land zu ziehen. Dabei werden betroffene Menschen so arm gehalten, dass sie als reiner Abschreibposten das Budget nicht zu sehr belasten. Ein Investment in einen wirtschaftlichen Neustart verarmter Personen ist in der (neoliberalen) sozialen Marktwirtschaft Deutschland keine Option.

Besonders negativ wirkt es sich aus, wenn wirtschaftlicher Aktivität keine Grenzen gesetzt werden um damit Sozial- und Umweltstandards zu umgehen. Dabei werden Kosten für faire Löhne, soziale Absicherung, klimaneutrales Wirtschaften oder Umweltschutz möglichst an den Betrieben vorbeigelotst. Das hilft den Unternehmen im Preiskampf und reicht die Folgekosten direkt an die Bürger*innen und den Staat weiter. Eine chronische Leere in den öffentlichen Kassen ist die logische Konsequenz. Was also gibt den Ausschlag dafür, sich als Staat nicht an den Gewinnen neoliberalen Wirtschaftens in marktüblichem Ausmaß zu beteiligen? Zwar ist in schlechten Zeiten von den Betrieben wenig zu holen. In den Boomjahren sollte jedoch die Refinanzierung neoliberaler Dienstbarkeiten möglich sein. Und zwar nicht auf Kosten der Bürger*innen. Die gelten ohnehin, ob Krise oder nicht, über den privaten Konsum als die größte Umsatz-Gruppe der heimischen Wirtschaft. Es sollte daher nicht verwundern, dass die Sicherung der persönlichen Kaufkraft aller Menschen im Lande, die Rettungsinsel in neoliberalen Abenteuern ist. Es gibt daher auch unter den Vordenkern des Neoliberalismus Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens. Denn nur verfügbares Einkommen kann auch ausgegeben werden.

Sie sehen, es gibt viele Facetten neoliberalen Wirtschaftens. Bei allen steht am Beginn eine realistische Chance auf individuellen unternehmerischen Erfolg. Dem gegenüber steht in der Praxis jedoch eine Reihe großer Risiken und negativer Effekte für Einzelne und die ganze Gesellschaft. Der Staat hat die Aufgabe, das Wohl aller Anspruchsgruppen im Auge zu behalten. Dazu braucht es visionärere Konzepte für gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen als heute. Vielleicht entsteht daraus eine neue, gemeinwohlorientierte neoliberale Schule.

 

 

Salzburg, 2020/08 – Gerd

Hinweise

Staatsquote = Verhältnis der Staatsausgaben zum Bruttoinlandsprodukt

Global Player = englisch für weltweit tätige Unternehmen

Lohn-Stückkosten = Anteil der Lohnkosten an den Herstellungskosten eines Produktes. Der kann minimiert werden, wenn man Menschen durch Technik ersetzt, die Produktion ins billige Ausland verlagert oder den Landsleuten niedrige Löhne bezahlt. Deutsche Unternehmen nutzen übrigens alle drei Optionen.

Game Changer = innovative Betriebe, die wirtschaftlich relevante neue Akzente setzen (z.B. IT-Betriebe, Material-Entwickler*innen, Pharma-Labore etc.)

Oligopol = wenige Anbieter*innen | zum Vergleich: Monopol = ein*e Anbieter*in, Polypol = viele Anbieter*innen

Disruption = Zerstörung | in diesem Zusammenhang neuartige Entwicklungen, die bestehende Angebote vom Markt verdrängen (z.B. Fotohandy vs. Analog-Fotografie)

Hochkonjunktur = längerfristig gute allgemeine Wirtschaftslage

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