Content-ID: 019|01 | Autor: Gerd | Stand: 10.9.2020

Re-Globalisierung | 02

Die bittere Wahrheit

box) = nähere Details finden Sie in der Fakten-Kiste am Ende dieses Beitrags.

Wir erleben gerade eine negative Seite von Globalisierung hautnah. Insbesondere Corona zeigt uns, wie wenig internationale Lieferketten eine Versorgungssicherheit mit wichtigen Produkten garantieren können. Dem setzen wir zwar ein Bekenntnis zu regionalen Lebensmitteln entgegen. Trotzdem sind wir auf dem besten Weg, uns wieder in die Abhängigkeit ferner Märkte zu begeben. Auch wenn damit der Traum von regionaler Unabhängigkeit und globalem Klimaschutz einen argen Dämpfer erleidet: Für einen Systemwechsel sind wir wohl noch nicht bereit.

Sehr oberflächlich und trotzdem treffend ausgedrückt scheitert ein Zurückdrängen negativer Globalisierungseffekte mehr am Geld als am Interesse an einer Lösung. So sind wir End-Kund*innen weltweit sehr preissensibel. Egal, ob durch niedrige Löhne erzwungen oder durch zunehmenden Konsumrausch in Kauf genommen: „Billig“ schlägt immer „sauber“ oder „fair“. Zudem sind freie Märkte jene Orte, an denen die Renditen für investiertes Kapital entstehen. Das wiederum erhöht den ohnehin schon ruinösen Kosten- und Erlösdruck auf viele Unternehmen. Unser aktuelles Verständnis von Wirtschaft lässt es gar nicht zu, den Faktor „Einstandspreis“ außer Acht zu lassen. In der Preis-Kalkulation müssen bei niedrigem Verkaufspreis auch die Kosten minimal sein, um maximale Rendite zu erwirtschaften. Es ist also egal, woher ein Rohstoff oder die fertige Ware kommen: Es zählt nur der Preis. Und der ist das Resultat ungehemmter Globalisierung.

Diese marktüblichen Abläufe machen sich längst jene Länder zunutze, die in der Lage sind, spottbillig anzubieten. Und zwar so billig, dass zusätzliche Leistungen, wie der Transport über den halben Globus, nicht ins Gewicht fallen. Die Differenz zwischen den Einstandspreisen, z.B. von europäischen und südamerikanischen Anbieter*innen, liegt dabei am niedrigen Lohnniveau und an fehlenden Umweltauflagen in den Exportländern begründet. Wir Europäer*innen fordern zwar eine saubere Umwelt und faire Arbeitsbedingungen. Wir sind aber kaum bereit, dafür auch zu bezahlen. Daher bleibt uns, wollen wir bei unserem Grundverständnis von Angebot und Nachfrage bleiben, nichts anderes übrig, als entweder den höheren Preis heimischer Produkte zu akzeptieren oder weiter billige Güter von weit weg zu importieren.

Importverzicht = Exportverzicht

Die heimische Wirtschaft wäre durchaus erfreut, würden die eigenen Märkte verstärkt auf „Made im Inland“ setzen. Das jedoch wirkt sich im Gegenzug negativ auf die Export-Chancen heimischer Unternehmen aus. Denn wenn auch andere Länder lokal denken, sinkt die Nachfrage dort nach Gütern aus Österreich automatisch. Deshalb haben sich, quer über den Globus, Wirtschaftsräume gebildet, die in Binnenmärkten geschützte Strukturen geschaffen haben. Dabei spielen der freie Waren- und Kapitalverkehr ebenso eine Rolle wie bindende Vereinbarungen bezüglich Umwelt oder (mehr oder weniger) soziale und rechtliche Rahmenbedingungen.

Die EU ist ein solcher Binnenmarkt, in dem sich aktuell 27 Länder auf eine gemeinsame Wirtschaftsstrategie, inklusive starker Umwelt-Akzente, geeinigt haben. Auch Mersocurbox), die Wirtschaftsunion in Südamerika, hat sich zu einem koordinierten Binnenmarkt zusammengefunden. Dort gelten jedoch weniger hohe Standards für Menschen und Umwelt als in der EU. Aktuell wird ein Freihandelsvertrag zwischen der EU und Mersocur verhandelt. Dieser ist jedoch heftig in die Kritik geraten ist. So würde durch diese Vereinbarung ein Austausch von Waren quer über den Atlantik stattfinden, der so nicht nötig wäre. Immerhin wird ein Gutteil der Waren zur Deckung des lokalen Bedarfs ohnehin in den jeweiligen Ländern produziert. Warum also importieren?

Derartige Freihandelsverträge setzen zudem einzelne Mitglieder der jeweiligen Binnenmärkte stark unter Druck. So wird die Rentabilität heimischer Unternehmen durch den zusätzlichen Wettbewerb zu Dumpingpreisen weiter untergraben. Vor allem aber werden die Bemühungen, Südamerika in Sachen Klimaschutz ins Boot zu holen, so nur halbherzig vorangetrieben. Im Falle von Mersocur prallen beispielsweise zwei Ideologien für Landwirtschaft aufeinander. Auf der einen Seite: groß dimensioniert, abgeholzte Regenwälder, Pestizide, Gentechnik, Ausbeutung der Arbeiter*innen, aber billig. Auf der anderen Seite: Umweltstandards, weitgehend regionale Produktion, Bio, (fast) faire Löhne, stark subventioniert und doch teurer.

Die EU hat eine Schutzfunktion

Dabei widerspricht Mersocur einem essenziellen Grundsatz von Wirtschaftsunionen. Nämlich der Pflicht, die unterschiedlich starken Mitgliedsländer vor einem ruinösen Wettbewerb durch Billigimporte zu schützen. Deshalb sollte die EU etwas tun, das z.B. die USA längst begonnen hat: ein gesundes Maß an Protektionismus betreiben. Zölle und verschärfte Handelsregeln sind nichts Schlechtes, wenn es darum geht, die inländische Produktion zu stärken und die Transportwege zu minimieren. Wir sprechen dann von einem regionalen Preisausgleich zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit. Jedoch leben führende Wirtschaftsnationen wie Deutschland, aber auch Österreich, sehr, sehr gut vom Export von Gütern in die ganze Welt. Sie werden daher immer weiter nach Freihandelsmöglichkeiten suchen. Dabei ist es egal, welche Konsequenzen das nach sich ziehen wird. So stehen die europäischen Umwelt- und Sozialstandards, die in einem Vertrag mit den Mersocur-Staaten ein Thema sind, in direktem Widerspruch zu deutschen Außenhandelsinteressen. Es würde daher nicht verwundern, wenn z.B. nach erzwungener E-Mobilität in Europa die PKW-Konzerne weiter am Verbrennungsmotor festhielten, um diesen über Freihandelsverträge in andere Regionen zu exportieren.

Besonders klar zeigt sich der Wunsch von Nationen, im internationalen Wettbewerb höhere Umwelt- und Sozialstandards zu unterlaufen, in den Verhandlungen zum Brexitbox). Dabei setzt Großbritannien darauf, trotz Austritt aus der EU deren Vorteile weiter zu genießen, jedoch ohne sich an die schärferen Regeln zu halten. Es geht Großbritannien schlichtweg darum, Waren und Leistungen zu Dumpingpreisen in die EU zu exportieren, ohne sich gegen Billigimporte schützen zu müssen. Denn eigene Kampfpreise sind angesichts der hohen Standards seitens der EU nicht realistisch. Trotz dieses offensichtlichen Ungleichgewichts würden viele europäische Unternehmen die drohenden Nachteile mangels Alternativenbox) akzeptieren, sollte Großbritannien nicht einlenken. Zu weit ist die Abhängigkeit von den Weltmärkten bereits fortgeschritten, um auch nur minimale Einbußen verkraften zu können. Zu dünn ist die Ertragsdecke in den meisten Branchen, Globalisierung nicht in vollem, wenn auch zerstörerischem, Umfang zu nutzen.

Raus mit alten Glaubenssätzen

Als erstes über Bord werfen müssten wir unseren Sparzwang, wenn wir die aktuelle Über-Globalisierung der Wirtschaft auf ein gesundes Maß internationaler Kooperationen zurückschrauben wollten. Klar, dass wir alle nach guten Angeboten und fairen Preisen suchen müssen, um ein Auskommen zu haben. Unser ewiges Feilschen um Cent-Beträge und die Suche nach dem größten Rabatt ist aber zu viel des Guten. Wir, aber auch Unternehmen und Regierungen, haben es in der Hand, lokale Wertschöpfung zu einer Win-win-Situation auszugestalten. Auf der einen Seite sorgen faire Löhne für anhaltende Nachfrage. Auf der anderen Seite garantiert die Loyalität der Menschen, faire Preise für regionale Produkte zu bezahlen, den Unternehmen eine sichere Existenz. Allein dadurch ließe sich, ohne nennenswertem Wohlstandsverlust, ein großer Teil unnötiger Transporte zwischen den Kontinenten einsparen.

Deshalb sollten wir Österreicher*innen mehr auf die EU als Wirtschaftsgemeinschaft und weniger auf die Einzelinteressen der Mitgliedsländer vertrauen. Es ist schon klar, dass z.B. Deutschland auf jede Exportchance setzt, egal was sich die Rest-EU durch die Hintertür damit an Nachteilen einfängt. Es geht aber auch weniger egoistisch. Mit rund 450 Millionen Einwohner*innen und einer Wirtschaftsleistung von knapp 14 Billionen US-Dollar ist unser Binnenmarkt groß genug, allen Menschen und Unternehmen ein Überleben in Wohlstand zu sichern. Wir sind aber auch groß und reich genug, über sinnvolle Verträge gute Handelsbeziehungen zu allen Ländern der Erde aufrecht zu erhalten. Die Exportchancen bleiben. Auch dann, wenn wir als hochentwickelter Lebensraum uns schon jetzt den Luxus hoher Sozial- und Umweltstandards gönnen. Derartige Verträge bieten aber auch die Chance, Partnerregionen an unsere Standards heranzuführen und die Über-Globalisierung einzudämmen.

Dafür bietet es sich an, statt Unmengen an Waren über die Ozeane zu schippern, in die Produktion vor Ort zu investieren. Ähnlich wie Unternehmen, die in China oder den USA produzieren, um Zöllen zu entgehen, ließe sich heimisches Kapital auch an anderen Orten gewinnbringend einsetzen. Dazu bräuchte es statt Handelsverträgen mehr Investitionsschutz und die Bereitschaft der Unternehmen, Steuern vor Ort zu bezahlen. Zudem dürfte ein Import von Produkten, die im Ausland unter anderen Bedingungen als in der EU hergestellt werden, nicht zollfrei möglich sein. Aber auch die Steuerung von Importpreisen über Abgaben, die die CO2-Bilanz des Deals berücksichtigen, hilft Globalisierungseffekte in nötige und vermeidbare zu unterscheiden. Bleibt noch die Bereitschaft der Bürger*innen, vermehrt heimische Produkte zu kaufen, diese länger zu nutzen und in Alternativen zu denken. Damit wird die Re-Globalisierung auch zu einem sehr persönlichen Projekt. Es liegt, trotz der umfassenden Macht der Nationen und Gemeinschaften, auch an Ihnen und mir, den anhaltenden Missbrauch der Erde nachhaltig zu reduzieren.

Salzburg, 2020/09 – Gerd

box) = Fakten-Kiste
Gefährlicher Glaubenssatz – „alternativlos“:

Nichts, außer dem Tod, ist auf dieser Welt „alternativlos“. Schon gar nicht Entscheidungen, die von Politiker*innen in Krisenzeiten getroffen werden. Es gibt immer (wirklich IMMER) einen alternativen Weg! Oft sogar einen, der zur Lösung des jeweiligen Problems besser geeignet wäre als jener, der uns als „alternativlos“ verkauft wird. Letztendlich geht es um die beste aller(!) Alternativen. Nur wenn mehrere Lösungen gefunden, diskutiert und verglichen wurden, können Sie sicher sein, dass man sich wirklich mit dem Problem auseinandergesetzt hat. Deshalb meint „alternativlos“ meist auch „ideenlos“ oder „unwillig“ und sollte bei uns alle Warnglocken schrillen lassen.

BREXIT | Stand der Dinge per 9.9.2020

BREXIT = englisches Kunstwort für den Austritt (Exit) von Großbritannien (Britain) aus der EU. Nach langem inner-britischen Streit und Verhandlungen mit der EU wird Großbritannien per 1.1.2021 die EU verlassen. Damit scheidet der fünftgrößte Wirtschaftsraum der Welt aus dem europäischen Binnenmarkt aus. Das bedeutet für Großbritannien, ohne vertragliche Nachfolgeregelungen, den Verlust aller wirtschaftlichen Vorteile aus dieser Partnerschaft. Das ist z.B. der freie Zugang zum gemeinsamen Markt für Unternehmen, die Menschen und das englische Finanzwesen. Auch die Teilnahme an allen von der EU geschlossenen Verträgen mit anderen Ländern oder der Zugang zu europäischen Förder-, Arbeitsmarkt- und Krisen-Programmen gehen mit einem Austritt verloren.

Einer der Gründe für die Trennung zwischen Großbritannien und der EU ist, dass es neben den wirtschaftlichen Vereinbarungen auch gesellschaftsrelevante Regeln in der EU gibt. Unter anderem gelten der freie Personenverkehr und Arbeitsmarkt, hohe Umwelt- bzw. Sozialstandards und ein strenger Wettbewerbs- und Rechtsrahmen. Großbritannien würde gerne in einem neuen Vertrag den freien Zugang zum EU-Binnenmarkt beibehalten, ohne jedoch die gemeinschaftlichen Regeln erfüllen zu müssen. Damit hätten britische Unternehmen gigantische Wettbewerbsvorteile gegenüber europäischen, sogar in deren Heimatmarkt. Sollte es derartige Zugeständnisse nicht bekommen, droht Großbritannien, die Verhandlungen platzen zu lassen. Gegen diese einseitige Lösung sind naturgemäß die verbliebenen EU-Länder. Zwar bedeutet ein „hard“ BREXIT (d.h. es kommt kein neuer Vertag zustande) auch für die EU einen großen wirtschaftlichen Einschnitt. Die Nachteile der EU aus den geforderten Sonderrechten für Großbritannien wären jedoch weitaus größer als das zu erwartende Geschäft auf dem britischen Markt. Aktuell pokert Großbritannien hoch und versucht mit der Drohung, die Verhandlungen scheitern zu lassen, die EU zu erpressen. Da diese jedoch nicht einlenken kann, ohne die 27 EU-Länder einer ruinösen Wettbewerbsspirale auszusetzen, steuert alles auf einen „hard“ BREXIT zu. Das wäre für beide Seiten sehr unangenehm.

EU-Mersocur-Abkommen | Stand der Dinge per 9.9.2020

„Mersocur“ benennt den gemeinsamen Wirtschaftsraum südamerikanischer Länder. Die Organisation umfasst 5 Mitglieds- und 7 assoziierte Länder. Das Wirtschaftsvolumen der gut 300 Millionen Menschen beträgt rund 3 Billionen Dollar. Im Vergleich dazu erwirtschaften in den 27 EU-Ländern rund 450 Millionen Menschen ein BIP von rund 14 Billionen Dollar. Seit cirka 20 Jahren wird zwischen beiden Wirtschaftsräumen ein Freihandelsabkommen verhandelt. Es geht vor allem um die Abschaffung hoher Zölle für Rohstoffe und Agrarprodukte aus Südamerika in der EU. Im Gegenzug sollten vor allem die Zölle für Industrieprodukte, Maschinen, chemische Erzeugnisse und Fahrzeuge fallen. Insgesamt würde die größte Freihandelszone der Welt entstehen. Soweit die positiven Wirtschaftsaussichten dieses Deals.

Es gibt aber auch eine Reihe negativer Seiten. So verschaffen vor allem fehlende Umweltstandards und das niedrige Lohnniveau in Südamerika Mersocur-Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil auf dem europäischen Binnenmarkt. Bisher wurden diese Nachteile durch Zölle zumindest preislich ausgeglichen. Künftig zwingt der geplante Vertrag europäische Anbieter*innen selbst auf dem Heimatmarkt in einen zusätzlichen Preiskampf. Vor allem in der Landwirtschaft entsteht ein extremer Druck auf heimische Produzent*innen, die nach europäischen Standards und zu angemessenen Preisen produzieren. Auch sind negative Folgen für das weltweite Klima zu erwarten. So wirkt nicht nur der Transport von Gütern über den Atlantik anhaltend schädlich. Auch ist zu erwarten, dass zusätzlich Regenwald abgeholzt werden wird, um europäische Märkte mit Produkten zu versorgen. Damit verpufft ein Teil der geschätzten rund 45 Milliarden Euro Exporterlöse über Folgekosten des Klimawandels, der dadurch beschleunigt wird.

Aktuell steht der Vertrag zwischen Mersocur und der EU unmittelbar vor der Unterzeichnung. Jedoch fordern einige EU-Länder und viele Organisation einen Stopp der Verhandlungen. Zumindest solange, bis alle Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes, des Einsatzes von Pestiziden, der Einhaltung von Menschenrechten und höheren Standards bei den Arbeitsbedingungen in Südamerika positiv geklärt wurden. Das wiederum kann ewig dauern.

Hinweise

Protektionismus = Schutz der heimischen Wirtschaft durch Handelsbeschränkungen und Einfuhrzölle

Leseliste

Atlas der Globalisierung | Welt in Bewegung | diverse Autior*innen | Le Mond diplomatique | Berlin, 2019

Unsere Welt neu denken | Eine Einladung | Maja Göpel | Ullstein Buchverlage | Berlin 2020

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