
Content-ID: 052|01 | Autor: Gerd | Stand: 27.5.2021
Aufhol Regionen
Vom Lockdown vor dem Lockdown
Als zu Pfingsten Österreich aus dem Corona-Lockdown entlassen wurde, habe auch ich die Gelegenheit genutzt, dem Tourismus beim Comeback zuzujubeln. Dafür ging’s in eine wenig überlaufene Region mit viel Gegend und etwas geringerer touristischer Perfektion. Neumarkt im Bezirk Murau war das Ziel. Das ist ein Naturjuwel zwischen dem Zirbitzkogel und der Grebenzen auf dem Weg vom Murtal nach Kärnten. Dass ich damit aber auch eine Zeitreise in die 1980er-Jahre unternommen habe, wurde mir erst später klar. Nämlich zu dem Zeitpunkt, als ich erkannte, dass die Region schon vor 40 Jahren und nicht erst mit Corona zugesperrt hat. Deshalb führte auch das Comeback aus dem Lockdown direkt in einen Lockdown-ähnlichen Zustand früher Prägung zurück.
Heute blicke ich auf einige sehr informative Tag in der Region Neumarkt | Murau zurück. Auf Bike-Ausflüge und Wanderungen auf Wegen, die laut Hüttenwirt*innen zwar gut beschrieben, jedoch kaum genutzt sind und sein werden. Auf lange Gespräche mit Gastronom*innen, die nach dem Lockdown mangels Tourismus-Erwartungen nur aufsperren, um den Nachbarn das Bier nicht mehr durch die Fenster reichen zu müssen. Touristiker*innen, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten, ihre Gaststuben nach 7 Monaten Kälte aufzuwärmen, die Weihnachtsdeko fortzuräumen und von Flaschen- auf Fass-Bier umzustellen. Es gab spannende Erzählungen von Senior-Chef*innen von Betrieben, deren Kinder nur mehr für Feiertage, nicht jedoch für eine Nachfolge zur Verfügung stehen. Von Hausfassaden, die bröckeln, noch genutzten Ställen, die längst verfallen, und Fach-Geschäften, die klammheimlich aus der Region verschwunden sind.
Von Abgehängten und Musterregionen
Der Bezirk Murau gilt, trotz intakter Umwelt und landschaftlicher Schönheit, als eine der struktur-schwächeren Regionen in Österreich. Landflucht ist hier das Kern-Problem. So ist seit 2002 die Bevölkerung um 12 % geschrumpft, während jene Österreichs um gut 10 % gewachsen ist. Der Wegzug für einen sicheren Job hat zwar zur Folge, dass die Arbeitslosigkeit vor Ort deutlich niedriger ist als im Bundesdurchschnitt. Trotzdem liegt die Wirtschaftsleistung je Einwohner*in bei nur ¾ jener in Gesamt-Österreich. Das liegt auch am Branchenmix in der Region, der mehr Beschäftigte in der Rohstoffgewinnung und -verarbeitung aufweist als in Österreich üblich. Deutlich weniger Menschen sind hingegen im Tourismus und anderen Dienstleistungen beschäftigt als anderswo. Daraus resultiert der Umstand, dass die in der Region verbliebenen Arbeitskräfte stark auf einen Lehrabschluss setzen und in nur geringem Ausmaß einen Hochschulabschluss vor Ort verwerten können.
Kein Wunder also, dass Regionen wie Neumarkt | Murau oft als wirtschaftlich abgehängt wahrgenommen werden. Sie sind auf den ersten Blick die Verliererinnen im Rennen um Wachstum und Wohlstand. Vergleicht man jedoch die aktuelle Situation mit der wirtschaftlicher Boom-Zonen rund um Ballungs- und Tourismuszentren, gibt es auch positive Aspekte. Dort, wo in den letzten Jahrzehnten in rasendes Wachstum investiert werden konnte, ist heute der Preis für weiteren Fortschritt enorm. So gilt es, teure Infrastruktur zu finanzieren, steigendem Innovationsdruck standzuhalten und gewagte Renditeversprechen zu erfüllen. Ganz besonders Tourismus-Regionen geraten dadurch zunehmend unter Druck. Zum einen sind die Eigenkapitaldecke und das Liquiditätspolster vieler Unternehmen hauchdünn geworden. Die damit steigende Abhängigkeit von den Banken erschwert es Unternehmen wiederum, zu diversifizieren oder sich mittelfristig gesund zu schrumpfen.
Zum anderen ist auch der umgebende Lebensraum dieser steten „Flucht nach vorne“ ausgeliefert. Die Immobilienpreise und Lebenshaltungskosten sind am Plafond. Der öffentliche Raum ist versiegelt und verschandelt. Und selbst in die Natur wurde massiv eingegriffen, um die Werbeversprechen der Touristiker*innen zu erfüllen. Damit liegt die einzige Option für die Zukunft vieler dieser Regionen tatsächlich im immer „Mehr vom Selben“. Das bedeutet: neue Kredite für neue Pisten, Seilbahnen und Wellness-Einrichtungen. Zudem braucht es Geld für Infrastruktur, mehr Gästekapazitäten, innovative Projekte und Werbung. Im Gegensatz dazu stagnieren die Einnahmen und die Kosten steigen. Wie die Erfahrung zeigt, geht diese Taktik nur so lange gut, bis wieder einmal die Gäste ausbleiben, Märkte kollabieren oder die Banken mangels Perspektive den Geldhahn zudrehen.
Die stille Reserve der Nation
Einige Regionen, die bis heute vermeintlich den Anschluss verloren haben, gelten zu Recht als die stille Reserve Österreichs. Vorwiegend deshalb, weil sie weitgehend frei von Altlasten sind. Die Natur ist intakt. Die Immobilienpreise und laufenden Kosten für Unternehmen und Private sind im Rahmen. Die Infrastruktur ist noch gestaltbar. Es gibt keine überzogenen Erwartungen auf Seiten der Kapitalgeber*innen. Und es besteht die freie Wahl, welchen der aufkommenden Trends und wachsenden Branchen man sich künftig widmen möchte. Dass dabei die öffentliche Hand gefragt sein wird, die strukturellen Rahmenbedingungen zu schaffen, sollte der Entwicklung dieser Regionen nicht im Wege stehen. Dafür gibt es ja Wiederaufbaufonds, Strukturhilfen und EU-Förderungen. Viele Zukunftsprojekte sind deshalb in Neu- oder Re-Start-Regionen zielkonformer, leichter und günstiger umzusetzen als in „hochgezüchteten“ Wirtschaftsräumen.
Es fällt daher auch nicht schwer, sich die sattgrüne Hügellandschaft rund um Neumarkt | Murau auch als Innovationsraum vorzustellen. Als Trend-Cluster, der in die Natur eingebettet und nicht auf ihre Kosten der Region neue Impulse beschert. Dafür laufen seit einiger Zeit Initiativen für die Ansiedlung von Betrieben oder den Ausbau zu einer Klima- und Energie-Modell-Region. Trotzdem gibt es, wie die aktuellen Zahlen zeigen, noch viel ungenutztes Potenzial für den wirtschaftlichen Aufschwung. Dabei könnten gemeinschaftliche Mehr-Branchen-Konzepte für bestehende Unternehmen schneller und nachhaltiger zum Erfolg führen als Neugründungen und betriebliche Alleingänge.
Erlauben Sie mir dazu ein (fiktives) Gedankenspiel zur Vernetzung der wirtschaftlichen Schwerpunkte der Region (Landwirtschaft, Holz und Tourismus) über ein kooperatives Gemeinschaftsprojekt.
Urban Gardening Neumarkt | Murau
Dem Trend der privaten Selbstversorgung mit Lebensmitteln folgend, braucht es künftig für viele Interessierte an Urban Gardining Einstiegshilfen. Nicht nur grundlegendes Wissen um das Anlegen von Gemüsebeeten oder deren effektive Bio-Bewirtschaftung ist dabei gefragt. Auch zu Hardware wie Erstausstattungen und Infrastrukturelementen oder zu Themen wie Lagerung oder Haltbarmachung herrscht große Nachfrage. Dafür aber ist es egal, ob sich ein Kompetenzzentrum für Urban Gardining in einer Stadt oder der „Einschicht“ niedergelassen hat. In Stichworten:
- Aufbau eines Urban Gardining-Kompetenzzentrums in Neumarkt inkl. Beratung/Coaching, Marketing, Backoffice, Vertrieb und Wissensmanagement (Know-how)
- Entwicklung, Produktion und Vertrieb einer eigenen Urban Gardining-Linie vor Ort (Holz)
- 20-30 lokale Bauernhöfe, die der Weidewirtschaft Muster-/Übungsfelder für den Obst-, Gemüse- und Kräuteranbau in Vor-Ort-Trainings abtrotzen (Landwirtschaft, Tourismus)
- Jede Menge Freizeitangebote und Schnittstellen zur regionalen Handwerks- und Kreativ-Szene bzw. Wirtschaft (Wertschöpfungskette).
Auch wenn dieses fiktive Beispiel nicht den Visionen der eingesessenen Neumarkter Bevölkerung entsprechen dürfte, Geld ließe sich damit auf jeden Fall machen. Es soll vor allem aber zeigen, dass selbst Regionen eine Art Corporate Identity brauchen. Ein unverwechselbares gemeinschaftliches Selbstverständnis. Es braucht eine Antwort auf die Frage, wofür die Leute und die lokale Wirtschaft stehen und als was sie von außen wahrgenommen werden wollen. Ärmere Regionen definieren sich gerne als Ort, in dem Leistungen, die anderswo goutiert werden, auch geboten werden. Das ist zu wenig! Mit „auch Wandern“, „auch Holz-Wirtschaft“ oder „auch Kühe“ bleiben sie der Schmiedl und werden nie zum Schmied. Daher führt der erste Schritt aus dem immerwährenden Lockdown in der Bedeutungslosigkeit zu einem klaren Bekenntnis. Liebe Regions-Manager*innen: Investieren Sie zuallererst Förder-Geld und Kreativität in die Frage, womit sie künftig exklusiv in Verbindung gebracht werden wollen. Gelingt das, ergeben sich die nächsten Schritte zum Wohlstand von selbst.
PS: Die Beispiel-Idee ist zur freien Entnahme.
Salzburg, 05|2021 – Gerd
Hinweise
[persönliche Meinung] Nebenstehender Beitrag entspringt Beobachtungen, die in einer Zeit gemacht wurden, die für keine Region in Österreich zu den einfachen zählt. Diese Recherchen sind zudem subjektive Wahrnehmungen, wie jene Gespräche, die mit Einheimischen geführt wurden. Selbstverständlich bietet der Bezirk Murau und die darin liegenden Gemeinden hohe Lebensqualität und auch eine positive Zukunft für die Bewohner*innen. Das, und auch die erfolgreichen Bemühungen der Manager*innen der Region, soll durch diesen Beitrag nicht madig gemacht werden. Im Gegenteil: Bitte kämpfen sie weiter. Und sei es nur für jene Personen, mit denen ich Kontakt hatte. Sie sind ausgesprochen freundliche, fleißige und zuvorkommende Menschen. Betroffene, die es sich zwischendurch erlaubt hatten, kritisch zurück und auch nach vorne zu blicken.
Urban Gardining = Gemeinschaftsgarten-Projekte in Städten zur Selbstversorgung mit Obst, Gemüse und Kräutern
Corporate Identity (CI) = Selbstbild eines Unternehmens, einer Region, etc. nach innen und außen
Link-Tipps
Infos für Gründer*innen: https://www.wirtschaftsregionmurau.at/fur-unternehmen/grundung/ »
Selbstwahrnehmung 1: https://starkes-murau-murtal.at/leben-news/starke-helden-in-der-landwirtschaft-isabell-ehgartner/ »
Energie-Projekt: https://www.energieregionmurau.at/region-murau/ »
Die nackte Wahrheit: http://www.arbeitsmarktprofile.at/611/index.html »
Selbstwahrnehmung 2: https://www.businessmonat.at/februar-maerz-2021/starke-region-starke-chancen »
Selbstwahrnehmung 3: https://bestof-muraumurtal.at/wp-content/uploads/2021/02/best-of-murtal-Februar-21-low.pdf »
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