Turn back Time

Content-ID: 072|01 | Autor: Gerd | Stand: 4.11.2021

Die Stunde der Wahrheit

Ist die Zeitumstellung jetzt Geschichte?

Die Theorie: Seit letztem Wochenende sollte die zwei Mal jährliche Zeitumstellung in der EU ausgedient haben. All jene Staaten, die sich bis dahin für die Winterzeit entschieden haben, hätten die Uhr am 31.10.2021 noch einmal zurückgestellt. Alle „Sommerzeit-Staaten“ behielten ihre Zeit vom März 2021. Damit wären die Kritiker*innen der Zeitumstellung diese für immer los. Und alle Menschen hätten im Alltag 180 Tageslichtstunden pro Jahr weniger zur Verfügung. Aber noch ist es nicht so weit. In der Praxis haben nämlich die EU-Staaten den Beschluss der EU-Kommission aus dem Jahr 2019, zur Abschaffung der Zeitumstellung bis 2021, nicht umgesetzt. Sie hätten sich bis dato verbindlich auf eine möglichst EU-weite Zeit einigen sollen. Das haben sie aber nicht! Damit bleibt es den Bürger*innen bis auf Weiteres erhalten, alle 6 Monate an der Uhr zu drehen.

Ob das Tricksen an der Uhrzeit grundsätzlich gut, schlecht oder einfach nur egal ist, das muss wohl jede*r für sich selbst entscheiden. Es gibt gute Gründe für ein Eine-Zeit-Modell über das ganze Jahr hinweg. Und es gibt ebenso gute Gründe dafür, den Alltag proaktiv dem Tageslichtzyklus anzupassen. Beide Diskussionslager beziehen sich in ihrer Argumentation vorwiegend auf persönliche Befindlichkeiten. Jet-Lags und gestörte Biorhythmen führen die Liste der Umstellungsgegner*innen an. Mehr Tageslicht, insbesondere im Sommer, nach Ende eines Arbeitstages, stehen bei den Befürworter*innen ganz oben. Fest steht hingegen, dass der ursprünglich gewünschte Effekt des Energiesparens eher zu vernachlässigen ist. Oder dass Erzählungen, Wild- und Weide-Tiere würden lieber der Uhr im Wohnzimmer denn der inneren folgen und durch eine Zeitumstellung verwirrt sein, sicher gut gemeint, aber schlecht erfunden sind. Das alles dürfte heute jedoch nicht mehr von Belang sein. 2018 haben sich 1 % der EU-Bürger*innen in einer Abstimmung gegen jene 99 % durchgesetzt, denen dieses Thema nicht wichtig genug war, um am Votum teilzunehmen. Damit ist die Entscheidung gefallen und harrt ihrer Umsetzung.

Bleiben nur noch Wehmut und die Erkenntnis, dass die derzeitige Sommer-Winter-Zeit-Regelung in Europa eine akkordierte und damit grenzübergreifende war. Das wird mit dem Einfrieren der jeweils landesgenehmen Zeit vorbei sein. So fassen einige Länder die Sommerzeit für das ganze Jahr ins Auge, während andere lieber durchgängig Winterzeit hätten. Damit aber würde in Europa ein bunter Fleckerlteppich an Zeitzonen entstehen, der für die Wirtschaft und die Gemeinschaft eher Gift denn Balsam ist. Beginnend bei Fahr- und Flug-Plänen über Zeit-Stempel im internationalen Daten-, Waren- und Geldverkehr bis hin zu Ungleichheiten in grenznahen Regionen, kann sich ein völlig neuer Bogen an Problemen spannen. Herausforderungen, die eher zu einem Einigeln der Nationalstaaten denn zu einem gemeinschaftlichen europäischen Durchstarten führen könnten. Als gesamteuropäischer Kompromiss betrachtet, hat uns die Zeitumstellung bisher auch gute Dienste erwiesen und nicht nur Nachteile beschert. Warum also ändern – zumindest bevor der EuGH die EU-Staaten final in die Pflicht nehmen muss?

Ich mag die Zeitumstellung

Ich persönlich bin ein Fan davon, jedes März- und Oktober-Ende an der Uhr zu drehen. Wie vorher eingeräumt, bin aber auch ich aus rein egoistischen Gründen für die Zeitumstellung. Dazu sei vorausgeschickt, dass ich keinen Tagesablauf an fixen Zeitrastern orientieren muss. Zumindest am Tagesrand, an dem ich ins oder aus dem Büro komme. Ich bin selbstständig und ich bin flexibel. Mir bleibt es offen, meinen Alltag am Sonnenstand auszurichten – so wie die Tierwelt und das Gemüse. Ich genieße es, lange in einen sonnigen Abend zu radeln, Mitte des Jahres sogar bis nach 22 Uhr. Das bringt den nötigen Ausgleich zum Arbeitstag und mehr Kraft und Kondition als nur ein Kurztrip zum Eisstandl. Ab dem 1. April habe sogar ich eine Chance, längere Touren vor einbrechender Dunkelheit zu meistern. Oder länger im tag-warmen Garten zu sitzen, Freunde zu treffen und die Gastronomie zu beehren. An diesen Tagen profitiert die lokale Wirtschaft ganz besonders von mir. Die gestohlene eine Stunde im Frühjahr hat sich spätestens 2 Tage nach der Umstellung voll amortisiert. Danach bringt sie effektive Lebenszeit. Für mich persönlich ist es die Glücks-Rendite, auf die ich über die Wintermonate angespart habe und die ich mit dem Vorstellen der Uhr jedes Jahr einlöse.

Aber auch die Rückkehr in die Winter- bzw. „Normal“-Zeit jeden Oktober kommt mir sehr gelegen. Ganz besonders profitiere ich (als selbsternannter Erfinder der Winter-Melancholie) davon, dass für einen Monat länger zumindest EIN Tagesrand ins Licht rutscht. Ins und aus dem Büro bei Dunkelheit kann eine*n hinabziehen, wie Beton beim Schwimmen. Dazu kommen die kerzenhellen Advent- und Winterfreuden an dämmrigen Nachmittagen, die noch Zeit für kuschelige Zweisamkeit während des Hauptabendprogramms lassen. Dabei kommt mir zugute, dass Zeitumstellungen bei mir keine Jetlags hinterlassen. Es ist wie beim Reisen. Zeit ist bis zu einem gewissen Teil relativ. Wenn in Paris der Frühstückskaffee fließt, sitzen die Leute in Warschau schon beim Brunch. Und trotzdem ist es in beiden Städten gleich spät. Meine innere Uhr ist spontan und neugierig. Sie liebt den Sonnenaufgang und genießt jede Stunde des Tages, egal wie die Zeiger stehen. Lediglich das Zeitkorsett der anderen stört manchmal. Ebenso wie das anschwellende Gemurre rund um das letzte März- und Oktober-Wochenende. Dann, wenn die Diskussion um die Zeitumstellung wieder hochkocht, nutze ich die kleinen Zeitlücken der anderen, um mit mir allein glücklich zu sein. Und das hoffentlich noch lange Jahre! 

Salzburg, 11|2021 – Gerd

Hinweise

Jetlag = biologische Probleme mit Zeitverschiebungen – z.B. auf Fernreisen

Akkordiert = gegenseitig vereinbart, abgestimmt

EuGH = Europäischer Gerichtshof

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