
Content-ID: 026|01 | Autor: Gerd | Stand: 12.11.2020
Sofort oder gar nicht
Klimaschutz zwischen Schnellschuss und Weitblick
box = nähere Details finden Sie in der Fakten-Kiste am Ende dieses Beitrags.
Ist Ihnen schon aufgefallen, dass wir alle uns mehr und mehr dem Augenblick unterwerfen? Nur das Hier und Heute scheint mehr zu zählen. Alles muss rasch gehen und schnell wirken. Selbst langfristige Herausforderungen, wie die Klimarettung, sollen (bitte schön) unmittelbar gelöst werden. Wir selbst investieren kaum mehr Zeit in Zukunftsstrategien oder die nachhaltige Bewältigung von Krisen. Die Zivilgesellschaft hat die Verantwortung für die eigene Zukunft vielfach ausgelagert. Egal ob an die Politik, an Unternehmen oder an NGOs. Das neue Motto lautet „macht ihr mal“ und nicht mehr „packen wir es an“. Zumindest ich und eine Reihe von Bekannten und Kolleg*innen teilen diese Wahrnehmung. Aber sehen Sie das auch so?
Gehören Sie z.B. zu jenen Mitbürger*innen, für die das Thema Klimawandel mit dem Eintritt der Grünen in die österreichische Bundesregierung abgehakt ist? Zwar haben nur knapp 14 % der Wähler*innen den Grünen bei der Nationalratswahl 2019 ihre Stimme gegeben. (Bis zu) 63 % der Österreicher*innen wollten jedoch danach die Grünen in der Regierung sehen. Auch wenn gut einem Drittel der Menschen Umweltpolitik weniger wichtig gewesen ist, existiert damit der Wunsch, sie an oberster Stelle verortet zu sehen. Wenn man sich heute unter den Menschen umhört, scheint für viele damit aber auch das Kapitel Klimaschutz erledigt zu sein. Immerhin gibt es eine grüne Ministerin und ein Regierungsprogramm, das suggeriert, dass der Klimawandel verhandelbar wäre. Und das, obwohl Umwelt- und Klimaschutz auch künftig alle Menschen persönlich fordern wird. Egal, wer in der Regierung sitzt. Darin steckt tatsächlich ein Widerspruch. Ich sehe dieses Dilemma jedoch nicht allein in der Verantwortung des Volkes. Es gibt gute Gründe, warum sich große Teile der Bevölkerung selbst aus der langfristigen Klimapolitik herausnehmen. Irgendwie scheint das mit unserem Konsumverhalten zu tun zu haben, wo der Fokus auf kurzfristige Bedürfnisse gerichtet ist. Abgesehen von Altersvorsorge, Bausparen und Familien- und Karriereplanung ist langfristiges Denken aus unserem Leben verschwunden. Letztendlich konsumieren wir heutzutage auch zukunftsorientierte Klimapolitik so wie wir Schokolade, Unterwäsche oder Urlaubsreisen konsumieren.
AUSSUCHEN » ZAHLEN » FERTIG!
Nach diesem Muster bewegen wir uns aktuell durch die allgegenwärtige Konsumlandschaft. Wenig Aufwand für ein rasches Ergebnis, umschreibt den perfekten Deal. Das befriedigt unsere Bedürfnisse und schafft Zeit für neuen Konsum. Aber auch wenn es um die großen Themen unserer Zeit geht, wirkt dieses „Schnellkauf-Modell“. Versuchen Sie, in der Überschrift den Begriff ZAHLEN durch einen anderen zu ersetzen. Sie werden damit einige Phänomene in unserer Gesellschaft wiedererkennen: WÄHLEN (statt zahlen) und das Kapitel Klima- und Umweltpolitik ist binnen Minuten erledigt. SPENDEN bekämpft die Armut in Sekundenschnelle, TOLERIEREN beseitigt Ungleichheiten und GUTHEISSEN legitimiert Demos. Mit IGNORIEREN finden wir uns bei Corona wieder. ABLEHNEN löst die Migrationsfrage und LEUGNEN beamt uns nach Amerika – und FERTIG! Auf diese Art beziehen wir zwar Stellung, setzen Zeichen und schicken die Politik oder NGOs in den Kampf. Ein persönliches Engagement ersetzt diese Vorgehensweise jedoch nicht. All jene Bürger*innen, die auch künftig aktiviert bzw. von der Politik „abgeholt“ werden wollen, brauchen dazu bessere Angebote. Und dass es die noch nicht gibt, macht mich etwas zornig.
Jetzt mal ruhig, Brauner!
Ich habe darüber auch mit GuGu diskutiert, meiner Streitpartnerin. Eigentlich heißt sie Gudrun und ist eine ewige gute Freundin, mit ausgeprägten Guru-Qualitäten – daher: GuGu. Als Streitpartnerin hat sie die Aufgabe, meine journalistischen Schlussfolgerungen und Argumente kritisch zu hinterfragen. Das geht oft nicht ohne Reibereien ab. Es ist jedoch zum zentralen Bestandteil meiner Recherchen und Analyse-Arbeit geworden. Dieser Art der Konfrontation hilft, das große Ganze – das „Big Picture“ – im Blickfeld zu behalten und trotzdem andere Sichtweisen zuzulassen. Zudem schützt sie mich vor emotionalen Irrläufen und gefährlichen Vorurteilen. Und genau darauf steuere ich mit meinen bisherigen Ausführungen zu. Also, runter vom Gas!
GuGu kennt sehr wirksame Methoden, um mich von der Palme zu holen. Eine davon nenne ich (nicht wissenschaftlich unterlegt!) den „Pfad meiner Erkenntnisbox“. Auf den schickt sie mich, wenn ich nach langen Recherchen zu einem Thema ein Werturteil oder gar einen Wahrheitsanspruch entwickelt habe. Fakt ist nämlich, dass, nur weil ich etwas für gut und richtig halte, es das noch lange nicht sein muss. Für eine gemeinsame Sicht der Dinge braucht es immer ein ähnliches Ausgangserlebnis und eine vergleichbare Lern-Erfahrung. Und gibt es die nicht, müssen wir sie entweder nachholen oder streiten. Ja, ich hatte bereits eine felsenfeste Meinung zur Frage, warum wir alle uns hyperaktiv im Augenblick verzetteln, hingegen die langfristigen Entwicklungen der Welt achselzuckend hinnehmen? GuGu sei Dank weiß ich mittlerweile, dass es auch gute Gegenargumente zu meiner Erkenntnis gibt, so gründlich sie auch recherchiert sein mag.
Es ist viel in Bewegung
Offensichtlich leben wir, trotz aller Kritik, in einer politisch engagierten Gesellschaft. Besonders junge Menschen widmen sich und ihre Zeit auch den großen Themen dieser Welt. Ob im Kampf gegen den Klimawandel, gegen Diskriminierung oder für Menschenrechte: Es gibt ausreichend Gelegenheit, sich zu engagieren. Viele Leute nutzen das, äußern sich und gehen für ihre Überzeugung auf die Straße. Auch wenn aktuell Corona wichtige Impulse aus der Bevölkerung in Richtung Politik überlagert bzw. verzögert, es gibt sie weiterhin. Insbesondere hat die Zivilgesellschaft im Rahmen der Bewusstseinsbildung und der Themenführerschaft zum Klimawandel nichts an Bedeutung verloren. Lediglich fehlen (mir) noch immer die Konzepte, die schweigende Mehrheit „abzuholen“ und ihnen eine Stimme zu geben. Weder politische Parteien noch NGOs und andere zivile Initiativen haben bislang Rezepte gefunden, über ihren Dunstkreis hinaus sichtbares Engagement in der Bevölkerung auszulösen.
Konkret beim Klimaschutz bleibt vielen Menschen gar nichts anderes übrig, als „mitgemeint“ zu bleiben. Für diejenigen, die nicht ins grüne Lager wechseln wollen, endet Klimapolitik tatsächlich oft an der eigenen Gartentür oder der Wahlurne. Hier offenbart sich die Schwäche der repräsentativen Demokratiebox. Am Wahltag überantworten die Wähler*innen ihre Zukunft einzelnen Parteien. Sie verlieren damit auch (fast) jegliche Möglichkeit, wichtige Themen in die Arbeitspapiere der Regierung und des Parlaments zu reklamieren. Insbesondere Themen, zu denen alle Parteien im Boot sein sollen, reiben sich oft in ideologischen Grabenkämpfen auf. Der Umwelt- und Klimaschutz, aber auch Gleichberechtigung, Inklusion, Menschenrechte oder Armut u.v.m., sind solche Themen, die überparteiliche Mehrheiten verdienen. Diese Herausforderungen eignen sich nicht für das repräsentative Demokratie-Verständnis. Im Gegenteil: Sie wären dringend aus dem ideologischen Wettstreit herauszulösen und überparteilich zu behandeln.
Wie aber kommen wir ins Tun?
Für eine gestaltende Rolle der Zivilgesellschaft reichen Instrumente wie Volksbegehren oder Volksabstimmung nicht aus. Es braucht neue Formate der Bürger*innen-Beteiligung. Ich wünsche mir so sehr Programme, die uns alle ins Tun bringen und nicht nur zugucken lassen. Auch in der Klimapolitik! Stellen Sie sich vor, Sie bestimmen, wofür Ihr Steuergeld verwendet werden soll und wofür nicht. Oder Sie erhalten staatliche Prämien, wenn Sie Ihr Erspartes, statt aufs Sparbuch zu legen, in Klimaprojekte investieren. Was spricht dagegen, analog zu „9 Plätze – 9 Schätze“, die Österreicher*innen konkrete Klimaprojekte starten zu lassen, die von der Zivilgesellschaft, nicht der Politik, eingereicht wurden? Wann werden endlich die so dringend benötigten positiv formulierten Projekte initiiert? Vorhaben, die der Gemeinschaft und dem Zusammenhalt der Menschen in Klimafragen gewidmet sind? Und wer holt die Neugierigen, ideologisch Unvorbelasteten in diese Projekte, in denen die Rettung der Welt und nicht deren Untergang thematisiert wird.
Derartige Formate sind auch die Basis, auf der wir Bürger*innen unser Interesse für langfristige Klimapolitik entwickeln können. Irgendwie vermisse ich außerhalb der grünen Blase ein grundlegendes Bekenntnis, sich langfristig dem Klimaschutz zu widmen. Es fehlt, zumindest in meiner Wahrnehmung, an klaren, konkreten regionalen und globalen Konzepten mit Schnittstellen, an denen sich Privatpersonen aktiv einbringen können. Zudem braucht es mehr Initiativen, die uns alle von Betroffenen zu Beteiligten machen – egal, ob wir grün wählen und freitags streiken oder nicht. Klimaneutral kaufen, Bäume pflanzen oder Öffis fahren kann nur der Anfang sein. Alle Menschen, egal welcher politischen Prägung, haben ein Recht auf ein Wir in der Klimafrage. Und zwar ohne die Seiten wechseln zu müssen!
Ich habe es am Beginn dieses Beitrages bereits angedeutet: Ich befürchte, dass wir mangels Weitblicks noch länger eine Klimapolitik der Schnellschüsse erleben werden. Ob wir auch langfristig zum Thema Klimaschutz alle in einem Boot sitzen werden, wage ich hingegen zu bezweifeln. Dank GuGu sehe ich jetzt aber auch die Chance, die ungehörte Mehrheit in die langfristigen Klimaprojekte zurückzuholen. Womit das gelingen könnte, muss wohl jede*r für sich selbst entscheiden. Vielleicht sind Sie ja bereits aktiv. Oder aber pflegen Sie den oben beschriebenen Konsum- und Lebensstil des „schnellen Deals“ und möchten sich nicht längerfristig festlegen. Auch das ist Ihr gutes Recht. Sollten Sie jedoch Interesse haben, (wo auch immer) mitzumachen, würde mich interessieren, was Ihnen konkret dazu fehlt!
Salzburg, 2020/11 – Gerd
box = Fakten-Kiste
Pfad der Erkenntnis
Damit lehne ich mich in in diesem Beitrag eng an die Erlebnispädagogik an, die sich u.a. auf den gemeinschaftlichen Erfahrungsaufbau in der Gruppe stützt. Wir kennen daraus Schlagworte wie „der Weg ist das Ziel“ (damit ist der Prozess des Wissensaufbaus gemeint) oder „learning by doing“. Ein ganz entscheidender Bestandteil dieser Philosophie und Methoden-Baukastens ist die Einbeziehung anderer als nur der eigenen Meinung und Erfahrung. Daraus entstehen u.a. Teamfähigkeit, Achtsamkeit, ganzheitliches Verständnis (Big Picture) und ein Bewusstsein der eigenen Grenzen, aber auch Möglichkeiten.
Im Detail verfolge ich (öfter) die Wirkungskette „Erfahren“ (Ursachen sehen, lesen, hören, fühlen, etc.) » „Erleben“ (Wirkungen selbst empfinden und interpretieren) » „Erkennen“ (Schlüsse ziehen und Lösungen entwerfen). In der Diskussion befinden sich die Beteiligten oft an unterschiedlichen Stellen dieser Ursachen-Wirkungs-Kette und haben Probleme, einander zu folgen. Besonders krass wirkt dies, wenn jemand sich bereits in der Erkenntnis-Phase befindet und Lösungen präsentiert, ohne dass andere sich bereits Gedanken zu dem Problem gemacht haben. Wir sehen das sehr oft in der Politik oder im Verkauf. Mit fixfertigen Lösungen brillieren, ohne das Gegenüber auf den Stand der Dinge zu bringen, erzeugt eher Ablehnung als Zustimmung. Daher sollten in diesem Fall alle Beteiligten, die noch kein Ausgangserlebnis (Problembewusstsein) oder keine Erfahrung damit (also eine eigen Meinunge) haben, durch den gesamten Meinungsbildungsprozess geleitet werden – bis hin zur Erkenntnis (Lösungskompetenz). Dieser Prozess wird oft „abholen“ genannt (schreckliches Wort, weil inflationär verwendet). Es beschreibt diesen Prozess jedoch ganz gut.
Repräsentative Demokratie
Demokratie umschreibt allgemein eine Regierungsform, in der das Volk das Sagen hat. Dabei wird in verschiedene Formen der Demokratie unterschieden, je nachdem, wer die nötigen Entscheidungen auch trifft bzw. umsetzt. In der direkten Demokratie zeichnen die Bürger*innen für alle diese Aufgaben verantwortlich. In der repräsentativen Demokratie (auch indirekte Demokratie genannt) werden Stellvertreter*innen beauftragt, im Namen des Volkes zu arbeiten. In der freien demokratischen Welt hat sich dabei durchgesetzt, dass das Volk bei Wahlen diese Stellvertreter*innen bestimmt und ihnen, für einen vorher festgelegten Zeitraum, die volle Verantwortung überträgt. Meist geschieht das über ein Mehrheitswahlrecht und politische Parteien, die dann für die politischen Programme und das benötigte Personal sorgen.
Das mag einerseits praktikabel sein, da die Fülle an Herausforderungen nur schwer zeitgerecht zu bewältigen sind, wenn nicht in Aufgabenpaketen und in kleinen Diskussionsrunden daran gearbeitet wird. Andererseits liegen aber auch einige Gefahren in der Abgabe von Verantwortlichkeiten an einen engen Personenkreis. So sind Wahlprogramme, also Versprechen einzelner Parteien vor der Stimmabgabe, nicht immer vergleichbar mit den Arbeitsprogrammen der Regierungen. Das bedeutet, dass die Aufträge, die der Politik vom Volk erteilt wurden, nicht immer auch erfüllt werden. Darauf reagieren dürfen die Bürger*innen jedoch erst bei den nächsten Wahlen – wieder im Unklaren darüber, ob Wahlversprechen es auch in die Arbeit der nachfolgenden Regierung schaffen. Dazu kommt, dass einzelne Herausforderungen (z.B. Krisen) vor Beginn einer Regierungsperiode nicht bekannt sind, das Volk jedoch keine Möglichkeit mehr hat, sich vor Ende dieser aktiv einzubringen. Die Lösung dieser, oft existenziellen Probleme, müssen daher den gewählten Politiker*innen überlassen werden. Und nicht immer scheinen diese Personen den neuartigen Herausforderungen auch gewachsen zu sein.
Aus diesem Grund fordern viele Menschen in ausgewählten Fällen eine stärkere Einbindung der Bürger*innen in politische Entscheidungen, auch während der Legislaturperioden (= Arbeitszeitraum einer Regierung). Damit möchte man die organisatorischen Vorteile der repräsentativen Demokratie mit mehr Expertise und Kontrolle aus dem Volk kombinieren. Das jedoch, braucht stärkere und auch neue Formate ergänzender direkter Demokratie. Aber das ist eine andere Geschichte …
Hinweise
NGO: Non Governmental Organisation = Nicht- Regierungsorganisation | z.B. Global 2000, Greenpeace u.v.m.
hyperaktiv: (krankhaft) übermäßig in Bewegung sein
Zivilgesellschaft: (wikipedia) umfasst die Gesamtheit des Engagements der Bürger eines Landes – zum Beispiel in Vereinen, Verbänden und vielfältigen Formen von Initiativen und sozialen Bewegungen.
Inklusion: (Soziologie) Gleichberechtigte Einbeziehung aller – tatsächlich aller – Menschen in die Gesellschaft, ungeachtet ihrer Eigenschaften bzw. der Unterschiede ihrer Lebenssituation.
9 Plätze – 9 Schätze: ORF Sendung, in der aus den schönsten Plätzen der 9 Bundesländer die schönsten prämiert werden.
Lese-Tipp:
Monays for Future | Freitag demonstrieren, am Wochenende diskutieren und ab Montag anpacken und umsetzen | Claudia Kemfert | Murmann Publishers GmbH | Hamburg, 2020
Link-Tipps:
FFF Österreich: https://fridaysforfuture.at/ »
Mutter Erde – act now: https://www.muttererde.at/klimaschutz-so-gehts/ »
Stefan Kainerder: https://www.klimaschutzjetzt.at/ »
commUNIty: https://blog.sbg.ac.at/tag/klimawandel/ »
Regierungsprogramm AT 2020: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/dam/jcr:c1dab58e-2a6c-4c18-a6b8-866ea49c15e9/Regierungsprogramm-Kurzfassung.pdf »
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