An die Arbeit

Content-ID: 038|01 | Autor: Gerd | Stand: 4.2.2021

Juristische Scheinheiligkeiten

Recht gestalten, nicht verschleppen

box = nähere Details finden Sie in der Fakten-Kiste am Ende dieses Beitrags.

Es ist eine Kernaufgabe des österreichischen Parlaments, Gesetze zu erlassen und an aktuelle Entwicklungen anzupassen. Im Mittelpunkt dieser Gesetze steht (meist) das Wohl der Menschen. Daher sind sie in erster Linie auf die Bedürfnisse der Betroffenen auszurichten. Und nicht, wie es ein ehemaliger Innenminister angeregt hatte, an den Wünschen der Politik. Trotzdem wird mit Gesetzen Politik gemacht. In den meisten Fällen Politik, die den Ideologien der regierenden Parteien im Parlament in die Karten spielt. Sie haben die Stimmenmehrheit und entscheiden somit, was gesetzlich geregelt oder verhindert werden soll.

Politische Parteien unterscheiden gerne in für sie „förderliches“ und „hinderliches“ Recht. Auf der einen Seite werden Gesetze beschlossen, die zu den Wertewelten der Parteien passen oder Angriffe darauf verhindern. Auf der anderen Seite gibt es Gesetze, die für parteipolitische Interessen Gift sind und möglichst entschärft werden müssen. Hier ein Beispiel: Ein Gesetz, das so ziemlich allen Parteien gut gefällt, ist das Parteien-Förderungs-Gesetz. In dem steht festgeschrieben, wann einer politischen Partei staatliche Zuwendungen zustehen. Heuer werden es, den Bund und die Länder zusammengerechnet, rund 212 Millionen Euro sein, die in die Kassen der Parteien und politischen Akademien gespült werden. Dass in Österreich Parteien vom Staat gefördert werden, hat u. a. den Hintergrund, dass damit keine Abhängigkeit der Politik von Spenden entstehen soll. Ob jetzt aber tatsächlich weniger Spenden und damit auch Wünsche von Unternehmen und Privatpersonen an die Parteien fließen, wissen wir nicht. Zwar wird von verschiedenen Seiten eine umfassende Kontrolle von Partei-Finanzen durch den Rechnungshof gefordert. Dafür aber ein wirkungsvolles Transparenz-Gesetz zu verabschieden, gefällt einigen Parteien nicht mehr so gut. Ein Schelm also, wer glaubt, dass sich weitere Geheimnisse in den Büchern der Partei-Kassier*innen versteckt halten. Trotzdem liegt ein diesbezüglich vollwertiges Gesetz auf Eis.

Baustelle Fremdenrecht

Eine, für einige Parteien weniger angenehme, Gesetzesmaterie ist jene des Fremdenrechts. In diesen Bereich fallen die Themen Einreise, Aufenthalt (z. B. Asyl oder humanitäres Bleiberecht), Erwerbstätigkeit, Integration oder Abschiebung. Damit werden seit jeher in Österreich politische Lagerkämpfe befeuert. So versprechen einige Politiker*innen ihren Wähler*innen ein Dichtmachen der Grenzen und Abschotten der Gesellschaft. Andere hingegen wollen Wohlstand und Sicherheit mit Menschen in Not teilen dürfen. Wenn es sein muss, auch auf österreichischem Boden. Je nachdem, wer gerade fürs Fremdenwesen die Regierungsverantwortung trägt, werden daher die gesetzlichen Bestimmungen verschärft oder gelockert. Aktuell leistet sich Österreich knallharte Bestimmungen, die es erlauben, Flüchtlinge und Schutzbedürftige möglichst kurz bzw. vom Land überhaupt fern zu halten.

Allerdings sind Menschen- und Schutzrechte im weitesten Sinn in internationalen Übereinkommen festgeschrieben und in den Unterzeichnerländern verpflichtend umzusetzen. Österreich ist so ein Unterzeichnerland. Trotzdem wurde, seit der Flüchtlingswelle 2015, das Fremdenrecht in Österreich schrittweise ausgehöhlt. Insbesondere wurden für Migrant*innen Leistungen gekürzt, Verfahren erschwert, Integration verschleppt und der Zugang zu humanitären Regelungen praktisch verunmöglicht. Zudem öffnen sich rechtliche Interpretationsräume, in denen sogar die Missachtung des Wohls von Kindern juristische Rückendeckung erfährt. Aus diesem Grund ist es für viele Österreicher*innen längst an der Zeit, aus dem Fremdenrecht wieder ein humanitäres Schutz- und kein menschenverachtendes Vergrämungsrecht zu machen. Dabei haben einige umstrittene Entscheidungen der Bundesregierung aus der letzten Zeit auch etwas Gutes an sich: Sie haben die Diskussion ums Fremdenrecht wieder in die Öffentlichkeit geschwappt.

Zur Erinnerung: Ende Jänner ist durch Österreich eine Welle der Empörung gerollt, als Kinder mit großem Polizeiaufgebot in einer Nacht- und Nebelaktion ins Ausland abgeschoben wurden. Viele Menschen verstehen und teilen dieses Entsetzen! Einerseits aus Solidarität mit den Kindern. Andererseits auch, weil dadurch langjährige Versäumnisse in der parlamentarischen Arbeit im Lande offenbart wurden. So deckt diese Aktion ein grundlegendes Problem in der österreichischen Rechtspflege auf. Zugegeben: Ich bin kein Jurist! Trotzdem beschleicht mich das Gefühl, dass bei der laufenden Anpassung bzw. Reparatur von unliebsamen Gesetzen herzlich wenig weitergeht.

Zwar schaffen die heute geltenden Bestimmungen auch die nötige rechtliche Basis dafür, dass Kinder aus den Elendslagern in Griechenland nach Österreich geholt werden könnten, ohne gleich Schleusen zu öffnen. Und es wäre auch rechtlich gedeckt, jungen Schüler*innen einen humanitären Aufenthaltstitel zu gewähren, anstatt sie abzuschiebenbox. Bundeskanzler Sebastian Kurz oder Innenminister Karl Nehammer könnten sich jederzeit darauf berufen, würden sie wollen. Auch hätten sie für humanitäre Einzelentscheidungen klare Regeln ins Gesetz einarbeiten lassen können – haben sie aber nicht. Und zwar deshalb, weil die momentane Gesetzeslage auch die Möglichkeit bietet, inhumanes Handeln zu rechtfertigen, anstatt abzustellen zu müssen.

So wird schon lange von der Diakoniebox die Novellierung des Bleiberechts in Österreich gefordert und auch schlüssig argumentiert. Einerseits geht es um die Staatsbürgerschaft für in Österreich geborenen Kinder. Andererseits steht ein Bleiberecht NEU für Personen, die bereits gut in die österreichische Gesellschaft integriert sind, auf der Liste für Dringlichkeiten. Dazu aber müsste die Zuständigkeit vom Innenministerium weg an die Bundesländer übertragen werden. Nur so wäre eine faire Einzelfallprüfung in Zusammenarbeit mit den Wohngemeinden gewährleistet.  Die Asylkoordination Österreichbox ortet überhaupt ein „politisch gewolltes Systemversagen“. So wurde in den letzten Jahren durch die Regierung eine Umsetzung der Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 8) schrittweise verunmöglicht. Mit dieser Vorgehensweise soll scheinbar auch die bevorstehende Abschiebungswelle von Menschen aus dem Fluchtjahr 2015 so wenig wie möglich eingebremst werden müssen.

Liebe Regierende!

Da bekannt ist, dass Sie gerne verschnupft auf Kritik und Forderungen aus den Reihen von NGOs, Opposition und Privatpersonen wie mich reagieren, versuche ich, Ihnen eine Brücke zu bauen. Ich bin guten Mutes, sie kann helfen, dass Sie sich zur Reparatur des derzeitigen Fremdenrechts durchringen können, ohne Ihr Gesicht zu verlieren.

Nicht alle von Ihnen arbeiten an der Bewältigung der Corona-Pandemie. Es gibt sicherlich noch jemanden, der die Reste dieses Staates zusammenhält. Gut so, denn dann könnten Sie damit beginnen, das Fremdenrecht zu präzisieren und zu öffnen. Zumindest in einem ersten Schritt zur Schaffung eines humanitären Korridors. Es verliert niemand Wähler*innen, wenn im Einzelfall das Kindeswohl oder die Linderung höchster Not einer demonstrativ zu Schau gestellten Unnachgiebigkeit übergeordnet werden. Im Gegenteil: Zähneknirschend zu helfen wirkt ehrlicher als die peinlichen Versuche, die Vorkommnisse rund um die Abschiebung der 12-jährigen Tina nach Georgien gerecht zu reden.

Es gibt kein Gesetz, das es verbietet, die außer Landes gebrachten Kinder wieder nach Österreich zu holen. Auch Kinder in Not aus Griechenland in österreichische Obhut zu nehmen täte nicht weh. Vor allem aber wäre genau jetzt der richtige Zeitpunkt, sich mit NGOs, der Opposition und Expert*innen zusammenzusetzen und das Fremden- inklusive humanitärem Bleiberecht auf eine menschlichere Basis zu stellen, als es heute ist.

Ihr Gerd Sendlhofer, 02/2021

PS an die grünen Kolleg*innen in der Regierung: Ein 123-Ticket, das dem Koalitionspartner mit dem Leid von Kindern abgekauft wurde, hinterlässt einen ganz, ganz schalen Nachgeschmack.

box) = Fakten-Kiste
Musste Tina wirklich abgeschoben werden?

Die ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshof und Abgeordnete zum Nationalrat, Irmgard Griss, stellt in einem Interview für die Kleine Zeitung die Frage, ob tatsächlich der Rechtsstaat Innenminister Karl Nehammer vergangene Woche dazu gezwungen hätte, die Abschiebungen von Kindern durchzuführen. Immerhin hat der Minister diese Behauptung selbst aufgestellt. Die Antwort darauf ist ein klares NEIN. Mit dem nötigen Willen hätte im gegenständlichen Fall auch ein humanitäres Bleiberecht geltend gemacht werden können. Zum selben Schluss kommt auch Maria Berger in ihrem Falter-Beitrag vom 2.2.2021. Die ehemalige Richterin am Europäischen Gerichtshof und Justizministerin a.D. stellt dabei die Behauptung des Innenministers infrage, einen Nicht-Abschiebung wäre ein Amtsmissbrauch seinerseits gewesen. Damit waren die Abschiebung und auch die beschämende Art und Weise, wie diese vollzogen wurde, durchaus so gewollt, jedoch auf keinen Fall „alternativlos“.

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Politik: „Der Minister und das Mädchen“ (Falter – nur mit Abo) »

 

Es braucht ein neues Gesetz

Die Diakonie Österreich, die Asylkoordination und andere Institutionen mit ausgewiesener Expertise in der Begleitung und Betreuung von Migrant*innen fordern seit Jahren eine Überarbeitung des österreichischen Fremdenrechts. Damit hätte auch die Abschiebung von Kindern, wie wir sie kürzlich fast live via Social Media miterleben konnten, ein für die Betroffenen positives Ende finden können. Dieses Gesetz greift jedoch noch tiefer. Es geht auch um ein neu formuliertes humanitäres Bleiberecht und um die Staatsbürgerschaft für im Lande geborene Kinder.

Presseaussendung Diakonie Österreich »

Presseaussendung Asylkoordination Österreich »

Hinweise

Anlässe für diesen Beitrag sind zwar die Abschiebung von Kindern Ende Jänner und die andauernde Weigerung der Regierung, Kinder aus den Flüchtlingslagern in Griechenland zu retten. Dabei handelt es sich jedoch nur um sichtbare Konsequenzen eines Problems, das viel tiefer liegt. In Österreich scheint es Tradition zu sein, mit Gesetzen und deren subjektiver Interpretation populistische Politik zu betreiben. Das fällt besonders leicht, wenn diese Gesetze Mängel aufweisen. Es wäre eher Aufgabe der Politik, in die Jahre gekommene Gesetze zu reparieren, als mit ihnen wahltaktische Spiele zu treiben. Daher greife ich hier die Forderung nach einer Überarbeitung des Fremdenrechts (mit all seinen Facetten wie Flucht, Aufenthalt, Integration, …) auf. Das jedoch nur als Beispiel für viele weitere dringende Gesetze, die ihrer Überarbeitung oder ihres Erlasses harren.