Atompoker

Content-ID: 107|01 | Autor: Gerd | Stand: 20.10.2022

Atom-Poker

Will die Menschheit wirklich „all in“ gehen?

Wer die jüngsten Berichte über die kriegerischen Krisenherde dieser Welt verfolgt, könnte meinen, wir wären im großen Endkampf der Kulturen gelandet. Jetzt soll sich entscheiden, wer von den großen drei künftig den Zugriff auf die Restressourcen dieser Welt dominiert und wer sich unterzuordnen hat. Die USA, Russland und China scheinen regelrecht die direkte Konfrontation zu suchen, um einen Vorwand zu haben, bis zum Anschlag aufzurüsten. Ähnlich wie im Balztanz einiger Vogelarten wird aufgemotzt und geprotzt, was das Zeug hält. So, als müsste sich der Rest der Nationen jetzt entscheiden, in die Herde welcher Weltmacht es sich einzuordnen lohnt. Aktuell scheinen für uns Europäer*innen die USA das weitaus kleinste Übel zu sein. Zumindest, was die kulturelle Verbundenheit und das uns wohlgesonnene Waffenarsenal betrifft. Aber was, wenn die USA, China und Russland bewusst in die globale Entscheidungsschlacht ziehen und die Falschen gewinnen?

Fakt ist, dass an allen Ecken und Enden dieser Welt die Sicherungen durchzuknallen scheinen. Es wird provoziert, werden rote Linien gezogen und diplomatisches Porzellan zerschlagen, als gäb’s kein Morgen mehr. Und das tut es vielleicht auch sogar. Das „kein Morgen mehr geben“ meine ich. Mit Herrn Putin hat man endlich jenen bösen, bösen Aggressor, den es braucht, um selbst die Waffenarsenale zu entstauben und aufzumotzen. Es stimmt ja, Herr Putin ist tatsächlich das Böse und tut Dinge, die zutiefst verurteilens- und bekämpfenswert sind. Aber im Zuge des offen ausgetragenen Konfliktes in der Ukraine brechen Wunden zwischen Ländern auf, die als längst geheilt gegolten haben. Und es gibt tatsächlich jede Menge Aggressionen, die ohne Herrn Putin nicht ausgelebt würden. Zumindest nicht mit jenem Sein-oder-Nicht-Sein-Getöse, das durch alle Medienkanäle auf und ab getrommelt wird. Das verstärkt wahrlich das aufkeimende Endzeit-Gefühl, das sich angesichts der aktuellen Schlagzeilen breitmacht.

Erstschlagsfantasien

Nur, um es sich bitter auf der Zunge zergehen zu lassen: Im Ukrainekonflikt ist es die Ukraine, die von der NATO den atomaren Erstschlag fordert. Wohl wissend, dass es mit dem ersten noch so kleinen taktischen Bömbchen von 10 kg wegen der atomaren Reaktionsspirale keine Ukraine mehr geben wird. Dagegen fuchtelt Russland mit derartigen Waffen herum, mit denen ratzfatz ein Nichtangriffsgürtel entlang der unrechtmäßig gezogenen Annexionslinien am Donbass gezogen werden könnte. Die USA kontern darauf mit dem Szenario, gleich die russische Armee ganz von dieser Erde zu tilgen. Wie auch immer das in einem 17-Millionen-Quadratkilometer-Land mit über 6.000 atomaren Sprengköpfen funktionieren soll. Erst recht, wenn Gerüchten zufolge, gerade Atom-Drohnen in Position gebracht werden, die technisch betrachtet 80 % der Bevölkerung und Wirtschaft der USA und halb Westeuropa plattmachen würden. Durch Tsunamis von mehreren 100 Meter hohen Monsterwellen, die von Atlantik und Pazifik aus in Richtung Festland geschickt werden könnten. Damit würde die vielfache Zerstörungskraft jenes Tsunamis von 2004 im Indischen Ozean erreicht. Damals waren rund 200.000 Todesopfer zu beklagen. Im gegenständlichen Fall reden wir von über 200 Millionen. Ich weiß, das klingt jetzt recht verschwörerisch und fern des Vorstellbaren. Technisch gesehen jedoch scheint dieses Szenario durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen. Damit aber sind derartige Gedankenspiele höchstaktuelle Droh-Gebärde im finalen Poker um diese Welt.

Kein Wunder also, dass neben den großen Atom-Nationen auch Länder in regionalen Konflikten wie Indien, Pakistan, Israel, der Iran oder Nordkorea unbedingt zu Atommächten werden wollen bzw. geworden sind. Einige dieser Länder sind damit nicht nur darauf aus, ein atomares Gleichgewicht zu erhalten, um einen Atom-Krieg zu verhindern. Sie spekulieren tatsächlich damit, den jeweiligen Todfeind auszulöschen, sobald dieser unachtsam wird. An genau diesen Fronten entsteht jetzt im globalen Atom-Poker zusätzliche Reibungshitze. Der Iran-Atomdeal scheint so gut wie geplatzt. Nordkorea erhöht die Schlagzahl in Bezug auf Raketentests. Israel ist im Nahen Osten in Dauer-Alarmbereitschaft. Vor Taiwan kreuzen Waffenarsenale gleich mehrerer Staaten. Südkorea und Japan versuchen gemeinsam mit den USA, mit eigenen Waffen-Tests zu imponieren. Und die Ukraine will von der NATO den atomaren Erstschlag. Ich habe manchmal das Gefühl, in diesem Endzeit-Poker fokussieren sich die beteiligten Spieler*innen auf die Höhe des Einsatzes und wetten darauf, dass die jeweils anderen nicht mitkönnen. Dass es einen „Point of no Return“ gibt, also einen Punkt, an dem kein Rückzug mehr möglich ist und es krachen muss, egal wie viel Bomben im Pot liegen, haben sie ausgeblendet. Dann entscheidet nicht mehr, dass, sondern nur wie viel Schaden angerichtet werden muss, um ein finales Drama abzuwenden. Genau davor habe ich Angst. Deshalb fordere ich (aus meiner kleinen, noch intakten, Welt heraus): Gebt der Diplomatie noch eine Chance und lasst die Finger vom atomaren Pokerspiel um die Vormacht in einer zerstörten Welt.

Faulige Beigeschmäcke

Europa ist, wie auch andere nennenswerte Länder-Bündnisse, sogar jetzt noch mehr mit sich selbst beschäftigt als mit der Lösung der globalen Krise. So, als gäb‘s bei atomarer Eskalation noch ein „Europa first“. Auch wenn mit der EU ein recht enges Vertragswerk zwischen einzelnen Staaten besteht, was an Schmalspur-Eigeninteressen noch immer über dem globalen Super-GAU angesiedelt ist, ist erstaunlich.

Dazu zählt auch, dass es viele, jedoch sehr wirkungsstarke Krisenherde gibt, die dazu beitragen, das Gesamtklima auf dem Globus drastisch einzutrüben. Natürlich ist es wichtig, zu einem Kreuzzug gegen Regime auszureiten, die Menschenrechte verletzen. Dabei aber an der Eskalationsschraube zu drehen, ohne helfend einzugreifen, ist entweder naiv oder fahrlässig. Wenn Europa einen Umsturz z.B. im Iran herbeiführen möchte (und das signalisiert es deutlich), reicht es nicht aus, diplomatisch zu zündeln. Dann müssen handfeste, revolutionstaugliche Fakten und Rückversicherungen geschaffen werden.

Zudem halten die Katastrophen-Schlagzeilen andere existenzielle Krisen, wie jene des Klimas, klein. Und davor habe ich mindestens ebenso Schiss wie vor der atomaren Eskalation.

Salzburg, 10|2022 – Gerd

Hinweise

[Persönliche Meinung] Ich bin im Grunde Pazifist. Also jemand, der bewaffnete Konflikte und gewalttätige Auseinandersetzungen vermeiden möchte. Und das, obwohl mir bewusst ist, dass zur Wahrung von Menschenrechten oder am Anfang von Demokratien manchmal Blut fließen muss. Auch in Form von bewaffneten Revolutionen und Bürgerkriegen. Gerade deshalb finde ich es unverantwortlich, diplomatische Provokation als Waffe auf dem missionarischen Kreuzzug des Westens, vor allem Deutschlands, zur Verbreitung demokratischer Grundwerte einzusetzen. Zumindest ohne zur konkreten Lösung der erzeugten Konflikte, im Sinne der Zivilgesellschaft, beizutragen. Oder anders gesagt: „Zündeln und dann nur schauen ist einfach zu wenig“.

all in = Begriff aus dem Poker-Spiel: gesamtes Vermögen einsetzen

Annexion = gewaltsame Inbesitznahme

Donbass = Gebiete in der Ost-Ukraine

Tsunami = gigantische Flutwelle

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