deepblack

Content-ID: 099|01 | Autor: Gerd | Stand: 28.7.2022

Deep Blackout

Zeitfenster in die Vergangenheit

Jetzt ist er da, der erste nennenswerte Blackout. Und das mit ganzer Wucht. Ohne Vorwarnung sind die Stadt, das Land, wahrscheinlich sogar halb Europa nach innen und außen blind und taub geworden. Kein Strom und damit keine Lieferketten, kein Internet oder sonstige Technik, in dessen Funktionskette irgendein elektronisches Bauteil versorgt werden muss. Der öffentliche Raum ist schlagartig zum Outback mutiert. Außer zentralen Diensten, die mit begrenzten Mitteln öffentlicher Versorgung und Sicherheit bespielt werden, funktioniert nichts. Die gesamte Region ist in Sekundenschnelle in Abermillionen Einheiten der Selbstversorgung zerfallen. Über Haushalte und mehr oder weniger funktionierende Nachbarschaften werden seit Tagen der Alltag und die Stimmung am Leben gehalten. Die öffentliche Hand hingegen bietet maximal Nothilfe und Durchhalteparolen.

Darauf aber wurden wir, zumindest in Österreich, ohnehin jahrelang vorbereitet. Einige Zeit der Selbstversorgung mit dem Nötigsten autark zu stemmen, sollte daher in jedem Haushalt möglich sein. Ein Mindestmaß an Stromversorgung hält die inneren Systeme und den Zugang zu Nachrichten am Laufen. Besitzer*innen von privaten PV-Anlagen sind da im Vorteil. Ausreichend Trinkwasser und Grundnahrungsmittel sichern das körperliche Wohlbefinden. Dabei helfen Selbstversorgergärten und gebunkerte Trocken-Vorräte übrigens mehr als Eingefrorenes. Das sollte bei Stromausfällen zuallererst auf den Speiseplan kommen. Gut wäre dann, wenn noch Brennholz und externe Koch- und Heizgelegenheiten zur Verfügung stünden. Der Ausfall des Abwassersystems lässt sich bei Gartenbesitzer*innen mit Regenwasserduschen und Camping-Toiletten eine Zeit lang gut abfangen. Der Rest ist dann auszusitzen, bis der Staat wieder in die Gänge kommt. Soweit die DIY-Theorie, die in der Praxis auch ganz gut funktioniert.

Worauf in den offiziellen Blackout-Ratgebern weniger eingegangen wird, ist die rapide Abnahme des Sicherheitsgefühls im öffentlichen Raum. Bereits nach 3 Tagen ohne Strom hat sich die hoheitliche Krisenbewältigung in die Ballungszentren zurückgezogen. Dort sorgen Polizei und selbsternannte Bürgerwehren zumindest für ein Gefühl von Sicherheit. Zudem funktionieren der Handel mit Rest-Gütern, Wärmestuben, Suppenküchen und medizinische Notdienste. Je weiter weg vom Stadtkern aber, desto stärker übernimmt Anarchie das Kommando. Rasch gehören Plünderung und Raub zum Alltag im ländlichen Raum. Beute sind dabei nur teuer gewordene Mangelgüter und Güter, die sich auch dann noch gewinnbringend verwerten lassen, wenn der Blackout längst Geschichte ist. Was an öffentlicher Sicherheit fehlt, muss durch Nachbarschaftswachen und Selbstbewaffnung wettgemacht werden. Das Grätzel, das Dorf, organisiert sich notdürftig für den Selbstschutz. Rasch jedoch wird klar, dass das gewohnte System kollektiver Hilfestellung zerfällt. Jetzt schlägt die Stunde der Machtmenschen und Krisengewinner*innen. Und so hat sich ab Woche zwei des Blackouts unser Dorf in ein gesellschaftliches Minenfeld verwandelt. Was bisher oberflächlich als Gemeinde funktioniert hat, ist nun von Gräben voller Hass und Missgunst durchzogen auf ewig!

Plötzlich gibt es Führer-Strukturen, die keinem demokratischen Prozess entspringen. Angesehene, vorwiegend reiche Persönlichkeiten, quasi Ortsoriginale, regieren ungefragt diktatorisch. Geneigte Einheimische sorgen mit spürbarem Druck für Zucht und breite Unterordnung. Außenseiter*innen und Zugereiste liefern meist nur das ab, was in höheren Zirkeln noch gebraucht wird. Es trennt dabei auch ein jahrelang in den Köpfen der „Hiesigen“ gewachsenes Sündenregister zwischen Teilhabe oder Repression. Es entscheiden Nachbarschaftszwiste, Müllvergehen, vergessenes Grüßen, Streits zwischen Kindern, subjektiv empfundenes Unrecht, Lärmbelästigung, Parksünden und Fremdenhass über den Status als Mitglied oder Paria. Über den Zugang zu oder den Ausschluss von gemeinschaftlicher Leistung. Und dieses Wertesystem wird in kürzester Zeit radikal und systematisch durchgesetzt. Plötzlich wird uns bewusst, dass so oder ähnlich es damals der Nationalsozialismus geschafft haben könnte, sich in die kleinsten Zellen des Landes auf ewig einzunisten. Aber auch, wie wenig es braucht, um diese Urzelle von Herkunfts- und Herren-Wahn wieder aus seinen verstaubten Kellern zu holen. Heute reicht eine Woche Blackout, um selbsternannte Eliten mit Macht auszustatten und ein System der Willfährigen zu etablieren. Und zwar ohne die wirkliche Gefahr, nach Ende der Krise dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Es ist zu viel Gewalt, Nötigung und „Aussage gegen Aussage“ im Spiel, um die Strippenzieher*innen dieser Gewaltorgie vor Gericht zu bringen. Bleiben wird nur die neo-nationalsozialistische Neuordnung im Dorf, wie sie von einigen Leuten so lange herbeigesehnt wurde.

Heute stehen wir, ein kleines Wohnviertel am Rande des Dorfes, auf der To-Do-Liste des Bürger*innen-Trupps. Seit bekannt geworden ist, dass unser Gemeinschaftsgarten eine erkleckliche Menge an frischem Gemüse und unsere Autos nennenswerte Reste an Treibstoff bergen, sind wir in den Fokus der neuen Dorf-Herren geraten. Es ist gerade dunkel geworden und wir können sie schon von weitem hören, wie sie im Gleichschritt näherkommen. Wir hingegen sind eine Gruppe von Menschen, die während der Krise bisher großzügig geteilt und geholfen haben. Wir hatten beschlossen, uns nur mit Worten zur Wehr zu setzen. Uns vor unsere Kinder zu stellen und zu vermeiden, dass zu viele Schäden an Häusern und Infrastruktur entstehen. Mehr aber wollen wir nicht eskalieren. Es überwiegt die Hoffnung, dass in einigen Tagen wieder Recht und Gesetz bei uns einziehen. Als vorerst schützender Rahmen, nicht als Ende eines Kampfes gegen erlittenes Unrecht, den wir danach vor allen Gerichten dieser Welt zu fechten bereit sind.

Ende A: Happy End »

Die Anspannung ist zum Greifen, als wir darauf warten, den Marschierer*innen Auge in Auge gegenüberzustehen. Kollektives Zittern, das sich in leisem Weinen eines unserer Kinder und dem Seufzen der Nachbarin Gehör verschafft. Plötzlich jedoch dringen auch aus den Seitenstraßen des Viertels Menschenstimmen. Hastige Kommandos, die dazu aufrufen, sich zu beeilen – womit, wofür auch immer. Und dann stoßen große Gruppen von Bewohner*innen angrenzender Wohnviertel und der Nachbardörfer zu uns. Bewaffnet mit Körben voller Brot und Obst. Mit Selbstgekochtem und Selbstgepresstem als Zeichen der Solidarität und kollektiver Wehrhaftigkeit. Und noch bevor der Plünder-Trupp um die letzte Kurve biegt, ist ein Fest initiiert. An eilig aufgebauten Tischen feiernd und fröhlich singend heißen 180 durchaus entschlossen wirkende Menschen die 23 Abgesandten des Dorfes willkommen. Eine Szene, die in kurzen Wortgefechten und dem Eintreffen einer endlich wieder verfügbaren Polizeieinheit gipfelt. Sie wird von jeder noch verfügbaren Handy-Kamera gefilmt. Beiträge, die helfen werden, die kurze Zeit des Rückfalls des Dorfes in eine dunkelbraune Vergangenheit lückenlos aufzuarbeiten.

Ende B: Nichts für schwache Nerven »

Die Anspannung ist zum Greifen, als wir darauf warten, den Marschierer*innen Auge in Auge gegenüberzustehen. Kollektives Zittern, das sich in leisem Weinen eines unserer Kinder und dem Seufzen der Nachbarin Gehör verschafft. Und in dem Moment, als das Dorfkommando ums Eck biegt wird uns klar, dass es nicht um Essen und Treibstoff gehen wird. Es sind wir persönlich, an denen sich der Zorn der neuen Nazis abzuarbeiten gedenkt. In strenger Formation, uniformiert und dekoriert mit Kampfzeichen einer ehemaligen SS-Einheit, wird Position bezogen. Dabei sind wir Männer rasch vom Rest der Gruppe getrennt und von Bewaffneten umstellt. Frauen und Kinder werden in einem Haus festgehalten, während der Gruppenführer eine Art Anklage wegen gefakter Vergehen vorträgt. Im Schein der Fackeln knieend vernehmen wir Worte wie „Verrat am Volke“, „Terrorismus“, „Aufstand“, „Schmarotzer“ oder „Staatsfeinde“. Als während der immer bedrohlicher werdenden Situation doch noch Polizeifahrzeuge mit Blaulicht am Schauplatz eintreffen, keimt letzte Hoffnung auf. Die jedoch zerbricht, als sich herausstellt, dass die Einheiten nur dazu da sind, um für unsere Festnahme und den Abtransport als Gefangene zu sorgen. Langsam macht sich die Gewissheit breit, dass der Umsturz im Staate, von ganz oben bis in unser Dorf, tatsächlich gelungen sein durfte. Dass der Blackout eigens dafür inszeniert wurde, um alle demokratischen Sicherheitsnetze zu kappen und minutiös vorbereitet das System zu stürzen. Einer der letzten Gedanken, die ich fassen kann, bevor ich in den Lieferwagen gedrängt werde, ist, dass eine Woche Blackout tatsächlich reicht, um die Nazi-Hölle in die Welt zurückzuholen.

Salzburg, 7|2022 – Gerd

Hinweise

Apokalypse 2.0, Gänsehaut-Gschichtln für den Lesesommer. Herzlich willkommen zur nahezu fiktiven UNBEHAGEN-Grusel-Serie zu höchst realen Bedrohungen für die Menschheit. Im Fokus stehen jene Krisen, die vom Menschen ausgelöst, jedoch, wider besseres Wissen, nie unter Kontrolle gehalten wurden. Sie werden das Leben auf dieser Erde definitiv schlechter machen. Ziel dieser Geschichten ist es, ein radikaleres Bewusstsein für das Elend der Welt zu erzeugen und Panik zu schüren. Falsche Zeit, falsche Gemengelage? Wenn Sie meinen, in Zeiten wie diesen würden wir eher Gute-Laune-Storys brauchen, dann ist das Ihre Sache. Die Lage ist jedoch in vielfacher Hinsicht todernst. Und nur wer das rechtzeitig erkennt, wird noch einmal davonkommen …

Nebenstehende Geschichte ist frei erfunden.

Blackout = länger andauernder großflächiger Stromausfall

Outback = australisches Hinterland = Sinnbild für endlose Wildnis mit extremen Lebensbedingungen

Autark = ohne fremde Unterstützung

DIY = „do it yourself“ = englisch für „mach es selbst“

Hiesige = umgangssprachlich für „hier Geborene, hierher Gehörende“

Man-Power = englisch für „menschliche Kraft oder Ressourcen“

Paria = Ausgestoßene*r