Klimabilanz

Content-ID: 050|01 | Autor: Gerd | Stand: 13.5.2021

Die EU neu denken

Es geht um die Zukunft Europas

box = nähere Details finden Sie in der Fakten-Kiste am Ende dieses Beitrags.

Mit einem Jahr Verspätung startet aktuell die Zukunftskonferenz für Europa. Dabei sind alle EU-Bürger*innen aufgerufen, sich bis zum Frühjahr 2022 „Gehör zu verschaffen und mitzuteilen, in welchem Europa sie leben möchten“ (Ausschreibungstext). Es geht (offiziell) um ein Europa der darin lebenden Menschen. Egal ob digital (über eine Plattform) oder, je nach Corona-Lage, in Präsenz-Veranstaltungen bietet sich die Gelegenheit, die Herausforderungen und Prioritäten der EU zu diskutieren. Ob es sich dabei tatsächlich um die einmalige Chance einer Bürger*innen-Beteiligung für Europa handelt oder bloß um ein buntes Image-Spektakel, steht noch nicht ganz fest. Wirklich beurteilen kann das jedoch nur, wer die Chance nutzt und sich tatsächlich einbringt.

Link zur Konferenzplattform – futureeu.europa.eu »

Das Projekt „Zukunftskonferenz“box hat bereits im Vorfeld sowohl Hoffnung als auch Irritation hervorgerufen. Zum einen sehen sich viele Menschen endlich dazu eingeladen, aktiv an der Diskussion zur Gestaltung der EU teilzunehmen. Sie verstehen sich auch als Widerpart zum exzessiven Lobbyismus, der sich im Innersten der EU breit gemacht hat. Immerhin sind mehrere 10.000 Unternehmen und Branchen aktiv mit der „Beratung“ von Entscheider*innen beschäftigt. NGOs und zivile Einrichtungen sind dabei krass in der Minderzahl. Auf der anderen Seite haben sich Personen, denen ein informeller Kontakt zur EU ein Anliegen ist, längst in Stellung gebracht. Aktivist*innen, NGO-Mitglieder, Parteien und ihre Vorfeldorganisationen oder engagierte Privatpersonen liefern ja bereits wertvolle Beiträge. Leider aber verschwinden diese oft nur in Schubladen, anstatt dankbar aufgegriffen zu werden.

Kritiker*innen sehen deshalb in der Zukunftskonferenz eher ein PR-Feuerwerk der EU. Aber auch eine vorauseilende Blockade jener Initiativen, die schon jetzt Druck auf die EU-Institutionen ausüben. Vor allem zur Klimafrage können die EU und die Regierungen ab sofort Aktivist*innen darauf verweisen, der Zukunftskonferenz nicht vorzugreifen. Darüber hinaus haben auch Gegner*innen direkter Demokratie die Möglichkeit, den Prozess der Zukunftskonferenz für sich zu vereinnahmen bzw. zu „trollen“. Deshalb kann kein objektiver Ablauf der Aktion vonseiten der Projektbetreiber*innen garantiert werden. Ebenso wenig, dass sich die Politik zur Umsetzung diverser Forderungen verpflichten wird. Vor allem aber ist nicht geplant, dass die EU-Gremien der Zivilgesellschaft künftig dauerhaft Sitz und Stimme in ihren Reihen gewähren wollen. Deshalb ist die Gefahr groß, dass diese medienwirksame Aktion tatsächlich verpufft. Würden sich die teilnehmenden Menschen aber damit abfinden? Oder hat im Falle, dass die Politik die Visionen der Bürger*innen ignoriert, dieses Projekt auch das Zeug dazu, eine zivile Revolution der Enttäuschten zu entfachen – was meinen Sie?

27 Staaten, ein Volk

Jegliche Öffnung der EU für mehr Bürger*innen-Beteiligung birgt eine Lawine an Chancen in sich. Um daraus nennenswerte Impulse zu lukrieren, wäre Europa gut beraten, die Zivilgesellschaft als feste Institution in gesamteuropäische Entscheidungen einzubinden. Dazu bieten sich u.a. folgende Instrumente direkter Demokratie an:

  • Eine permanente länderübergreifende Bürger*innen-Plattform für den Austausch von Ideen und Anregungen zur kontinuierlichen Gestaltung der EU. Dazu gehören auch Regeln und Techniken zur Einbringung und Quantifizierung von supra-nationalen Bürger*innen-Begehren.
  • Eine zivile Instanz als vierte Säule der politischen Entscheidung innerhalb der EU. Diese Instanz hat das Recht, den bisherigen Gremien (Rat, Kommission, Parlament) konkrete Aufträge zu erteilen und finale Entscheidungen in jedem dieser Gremien durch ein Veto zu blockieren.
  • Einen permanenten zivilen Kontrollausschuss mit der Aufgabe, die politische und wirtschaftliche Gebarung der Union transparent zu machen. Dieser Ausschuss hat Zugang zu Unterlagen in der EU selbst und in den Mitgliedsstaaten. Zudem hat er das Recht, EuGH-Klagen einzubringen.
  • Ein ziviles Büro für EU-Außenpolitik, das im Namen der Bürger*innen, nicht der Mitgliedsstaaten, international in Erscheinung tritt. Es kann über die EU-Diplomatie einzelne Länder und Unternehmen zu Umweltschutz-, Fairness- oder Menschenrechtsthemen offiziell kontaktieren. Unabhängig davon kann es gegen Missstände in Drittstaaten in allen EU-Staaten über Aufklärungskampagnen und Boykott-Empfehlungen direkt tätig werden.

Es stimmt schon: Die EU und ihre Mitgliedsstaaten haben eine Mords-Angst vor Veränderungen. Sie befürchten Kontrollverluste und sehen in möglichen Forderungen der Zivilgesellschaft schon jetzt einen Anschlag auf ihre Macht. Diese Beharrungskräfte für eine schwache Union haben der EU als ursprünglich offensives Projekt schon bisher großen Schaden zugefügt. Europa agiert heute ineffizient, halbherzig und kaum mehr im Sinne aller Bürger*innen. Trotzdem spricht nichts gegen einen Erneuerungsprozess, der von der Zivilgesellschaft getragen wird. Dieser wäre rechtlich und organisatorisch möglich. Es braucht nur den politischen Willen und etwas Ausdauer dazu.

Die EU und die Mitgliedsstaaten wären gut beraten, diesen Prozess selbst in die Wege zu leiten.
Falls nicht, stünde den Bürger*innen auch die Möglichkeit offen, über internationale Bewegungen á la Fridays for Future die EU von der Basis aus zu verändern!

Salzburg, 05|2021 – Gerd

box) = Fakten-Kiste
Mehr zur „Conference of the future of Europe“

Mit dem Bekenntnis „die Zukunft läge in Ihren Händen“ und der Aufforderung „sich Gehör zu verschaffen“ lädt die EU aktuell dazu ein, sich mit den Herausforderungen und Prioritäten Europas zu beschäftigen. Weiter heißt es: „Das Europäische Parlament, der Rat und die Europäische Kommission haben sich verpflichtet, die Europäerinnen und Europäer anzuhören und im Rahmen ihrer Zuständigkeiten den Empfehlungen zu folgen. Die Konferenz wird voraussichtlich bis zum Frühjahr 2022 Schlussfolgerungen mit Leitlinien für die Zukunft Europas erarbeiten.“

Im Detail können, im Rahmen dieser Zukunftskonferenz, Interessierte aus ganz Europa (möglichst junge Menschen) Vorschläge für ein besseres Europa einbringen. Dazu stehen eine WEB-Seite und, je nach Corona-Lage, organisierten Veranstaltungen zur Verfügung. So weit, so gut.

Insgesamt werden den EU Bürger*innen 10 Themenfelder geboten, zu denen Beiträge eingebracht werden können. Zwar sind diese Foren moderiert. Eine tiefergreifende Begleitung der Diskussion scheint jedoch nicht stattzufinden. Daher sind alle Teilnehmer*innen aufgerufen, selbst auf die Einhaltung von Regeln zu achten. Die Beiträge sollen im Anschluss über Algorithmen nach deren Nenn-Häufigkeit, nicht jedoch nach deren Inhalt priorisiert werden. Präsenz-Veranstaltungen müssen zudem überwiegend in Eigenregie organisiert, promotet und moderiert werden.

Nach heutigem Stand ist es nicht zwingend, dass der Austausch tatsächlich einer vertiefenden Re-Organisation der EU gewidmet ist. Auch gegenteilige Ambitionen finden hier ihren Platz. Was sich nach freier Meinung anhört, lässt jedoch Befürchtungen laut werden, dass die Schwächung der EU schon auf der Konferenz-Agenda subversiver innerer Kräfte und internationaler „Trolle“ steht. Dazu gehört neben der Abkehr von einer politischen und sozialen EU auch die Rückkehr zur reinen Wirtschaftsunion. Bleibt daher zu hoffen, dass einerseits derartige Einflussnahmen unterbunden werden können. Andererseits wäre eine hohe Beteiligung jener Menschen wünschenswert, die tatsächlich eine starke, gefestigte EU als ihren künftigen Lebensraum ausgemacht haben.

Dann wäre es auch wahrscheinlicher, dass sich im Anschluss an diese Zukunftskonferenz die Mitgliedsstaaten wieder dem Verbindendem und nicht dem Trennenden in der EU widmen.

Link zur Zukunftskonferenz: https://futureu.europa.eu/?locale=de »

 

Bürger*innen-Forum Europa

Wer das Gefühl braucht, mehr gehört bzw. wahrgenommen zu werden, der kann (bis 31.3.2022) Ideen zur Gestaltung der EU auch an das Bürger*innen-Forum Europa übermitteln. Dahinter verbirgt sich ein (weitgehend) überparteiliches Personenkomitee österreichischer EU-Visionär*innen. Diese Gruppe bietet während der kommenden 12 Monate zu insgesamt 5 Themen (nacheinander) Gelegenheit zum Austausch. Den Anfang macht bis zum 30.6.2021 das Thema „Innovation“.

Link zum Bürger*innen Forum: https://www.buergerforum-europa.at »

 

Hinweise

Die EU-Zukunftskonferenz hätte eigentlich zum 70-jährigen Jubiläum der EU im Jahr 2020 starten sollen, um die europäische Idee (der Zukunft) den Bürger*innen wieder näher zu bringen. Bedingt durch die Pandemie und den Umstand, dass sich die Mitgliedsstaaten lange nicht auf ein Prozedere einigen konnten, geht jetzt der europaweite Event mit Verspätung in Szene.

So wie es aussieht, wird diese Aktion eine einmalige bleiben und nicht dahingehend aufgewertet, künftig Bürger*innen-Beteiligung überhaupt institutionalisiert in die europäische Gestaltungsarbeit zu integrieren. Davon zeugt auch die Ankündigung der Länder, zwar hinhören, sich jedoch zu nichts zwingen lassen zu wollen.

Lobbyismus = (grundsätzlich erlaubte, jedoch oft missbrauchte) Einflussnahme von Unternehmen und Organisationen auf die Arbeit einzelner Politiker*innen und ganzer Regierungen.

NGO = engl. für Nicht-Regierungs-Organisation

Direkte Demokratie = Einbindung von Bürger*innen in diverse Entscheidungen der Politik – teilweise auch verbindlich

supra-national = über-staatlich, indem Souveränitätsrechte einzelner Länder an eine Staaten-Gemeinschaft übertragen werden – siehe EU

Lese-Tipps

Warum Europa eine Republik werden muss
Eine politische Utopie | Ulrike Guérot | 2017, Piper Verlag, München

Wie hältst du’s mit Europa
Ulrike Guérot | 2019, Steidl Verlag, Göttingen

Unsere Welt neu denken
Eine Einladung | Maja Göpel | 2020, Ullstein Buchverlage, Berlin

Link-Tipps

Tagesschau.de: https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eu-plattform-101.html »

Die Presse (nur mit Abo): https://www.diepresse.com/5977118/burger-konnen-vorschlage-zur-neugestaltung-der-eu-machen »

Handelsblatt.com: https://www.handelsblatt.com/politik/international/europaeische-union-demonstrativ-desinteressiert-deutsche-reformmuedigkeit-bremst-eu-zukunftskonferenz/27171698.html »

Wiener Zeitung: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/europa/2102930-Buerger-auf-EU-Ideensuche.html »

Der Standard: https://www.derstandard.at/story/2000126513961/zukunft-europas-ein-holpriger-reformstart »