EU Wahl 2024

KOMMENTAR | Content-ID: 147|01 | Autor: Gerd | Stand: 25.4.2024
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Die Idee Europa

Was wollen wir wirklich?

Anfang Juni sind die Bürger*innen der EU aufgerufen, das Europäische Parlament zu wählen. Damit wird eine der drei Säulen der gesamteuropäischen politischen Systemlandschaft wieder einmal auf neue Beine gestellt. Im EU-Parlament findet üblicherweise der breite inhaltliche Diskurs zu EU-relevanten Themen statt. Die zweite Säule, der Europäische Rat, ist der Club der Staats-Regierungen und wird über nationale Wahlen beschickt. In Österreich geschieht das im Frühherbst 2024. In anderen Ländern wurden diesbezüglich schon teils heftige politische Statements gesetzt. Viele meinen daher, in den Nationalstaaten entsteht oder versickert mehr Europa als in den EU-Gremien selbst. Dort entscheiden nämlich rein nationale Befindlichkeiten über einen akkordierten EU-Handlungsrahmen, nicht gemeinschaftliches, zukunftsorientiertes Projekt-Denken. Und die dritte Säule, die Kommission, wird auf Vorschlag des Rates vom Parlament eingesetzt und versucht, die Arbeit an Europa thematisch zu ordnen bzw. nach innen und außen zu verkaufen.

So weit zur Legislative der EU. Jenen Gremien, die für die Gesetzgebung Europas bzw. den demokratiepolitischen Rahmen zur gemeinschaftlichen Projektarbeit verantwortlich zeichnen. Für viele liegt darin die größte Errungenschaft des geeinten Europas. Nämlich die realpolitische Möglichkeit, alle Nationalstaaten in ein inhaltliches Korsett zu zwängen. Meist eines, das von den reichen Ländern den ärmeren Regionen umgeschnallt werden soll, obwohl dort die Prioritätenliste oft anders gereiht ist. Dieser Überzeugungsprozess geschieht weniger über eine geteilte europäische Vision. Umso mehr aber mit riesigen Geldschein-Bündeln aus den Netto-Beitragskassen Deutschlands & Co. Dafür braucht es primär einen Rechtsrahmen, über den man rasch und verbindlich den Sack zuschnüren kann, wenn eine*r der Verhandlungsgegner*innen an anderer Stelle eingeknickt ist. Ich verwende den Begriff „Gegner*innen“ in diesem Zusammenhang sehr bewusst. Denn bei uns, an der Basis Europas, ist nur schwer erkennbar, dass andere Interessen als jene der wirtschaftlich dominierenden Staaten zu europäischem Recht werden. Und dass nationale Bedarfe kleinerer Länder dafür auch unter die Räder kommen können.

Dieses „proaktive Voranschreiten“ der Starken finde ich übrigens gar nicht so schlecht! Denn wer, wenn nicht wir, die satten, an Privilegien reichen Gesellschaften haben den Kopf jetzt schon frei, sich um weiterführende Themen zu kümmern? Um Aufgaben, die nicht mehr direkt mit dem täglichen Auskommen und der grundlegenden Versorgung der EU-Bürger*innen mit Rechten, Wohnung, Brot und Bildung zu tun haben. Wenn es also über die EU gelingt, Menschenrechte, Klima- und Umweltschutz, Zukunft, Frieden und Sicherheit europa- und weltweit einzufordern, warum nicht? Jedoch ist im Gegensatz zu früher, als die Union noch ein strategisches Projekt war, das Zeit hatte, Beitrittsländer zu integrieren und wirtschaftlich heranzuführen, heute Tempo angesagt. Die teils dramatischen Krisen in und rund um Europa brauchen unmittelbar gesetzte Akzente. Vor allem aber brauchen sie ein konzertiertes Vorgehen aller Länder und rasch verfügbare Budgets. Also Geld, das nun einmal nur aus den Haushalten der reichen Staaten stammen kann. Wie aber soll es gelingen, die Bürger*innen dort davon zu überzeugen, ohne Erlös-Versprechen in die Zukunft aller und nicht nur die eigene zu investieren? Oder anders ausgedrückt, die schwächeren Regionen auf Klimaschutz & Co einzuladen. Nicht dass das nicht ohnehin schon geschehen würde – es braucht nur halt noch mehr davon als faire Umverteilung von anstehenden Transformationskosten.

Das bringt mich wieder zurück auf die aktuelle Struktur der EU-Legislative. Sie ist heute der kleinste gemeinsame Nenner Europas. Quasi der Spatz in der Hand einer Idee, die vor vielen Jahren als ganzer Taubenschwarm begonnen hat. Heute rittern lokal verortete Kampf-Ideolog*innen und intern unbequem gewordene Partei-Soldat*innen um Sitz und Stimme in einem System, das an Schlagkraft und Relevanz dramatisch verloren hat. Viele davon reden sich ein, an den Hebeln der Macht zu sitzen. Letztendlich aber tun das nur die nationalen und teils sogar nationalistisch geprägten Regierungen in aktuell 27 und künftig vielleicht mehr Staaten. Wenn im Juni gewählt wird, wird daher vorwiegend eine Verwaltung bedient, in der statt großer Würfe nur mehr Minimalkompromisse kreiert werden. Die deutsche 4%-Partei FDP hat diese Strategie auf Kommissions-/Ratsebene kürzlich beim Verbrenner-Aus oder beim Lieferkettengesetz eindrücklich angewandt. So aber entstehen nur mehr Lösungszwerge, die der Dimension der dahinter liegenden Probleme nicht mehr gerecht werden (können). Was aber bringt eine zahnlose, dafür aufwändige EU-Legislative, inklusive eines rasant wachsenden Monsters an Bürokratie und Verwaltung, wenn es nicht mehr gelingt, den Bürger*innen die Idee eines „großen“ Europas zu vermitteln?

Es stimmt schon. Das Europa, das wir haben, ist weit besser als nichts. Das Format, in das wir dieses Europa manövriert haben, dient jedoch nur mehr dazu, Bürokratie und Regeln zu etablieren, die es Personen, Parteien und Regierungen erleichtern, Minimal-Interessen durchzusetzen. Das alles bereitet mir Bauchweh! Mir fehlen schlichtweg die Leute, die spannende Geschichten zu Europa zu erzählen wissen. Visionen einer Zukunft, die es lohnt, gemeinsam entdeckt zu werden. Ausblicke auf eine Reise, bei der Neid und Misstrauen nicht mit an Bord sind. Auf einen Prozess, in dem gemeinsam offene historische Zerwürfnisse gekittet werden und neues gegenseitiges Verständnis entsteht. Bitte erzählt mir mehr von einem bunten, multikulturellen Europa und von Wohlstand, Sicherheit, Frieden und Perspektive für alle Menschen. Klar, Europa ist keine Religion, die ein Paradies auf Erden verheißt. Trotzdem könnte es eine uns alle verbindende Vision sein. Ein kollektives Selbstverständnis der Menschen, entlang dem wir uns gut behütet in eine unsichere Zukunft vorwagen können.

Das EU-Parlament, der Rat und die Kommission werden uns in diese Richtung wohl auch künftig nicht überraschen. Dessen bin ich mir sicher. Vielleicht aber ist nach der kommenden Wahl jemand unter den Mandatar*innen, die oder der eine begeisternde Erzählung von Europa im Repertoire hat.

Salzburg, 4|2024 – Gerd

PS: Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse widmet sich in seinem neuesten Werk „Die Welt von morgen“ auch der Frage nach dem Aufbau einer nach- bzw. übernationalen europäischen Demokratie. Meine  erste Reaktion auf das Buch: Kritisch, visionär, g’scheit und spannend.

Die Welt von morgen | Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde
Robert Menasse | Suhrkamp Verlag, Berlin 2024

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