KOMMENTAR | Content-ID: 166|01 | Autor: Gerd | Stand: 23.1.2025
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2025 ist das Jahr des Perspektivenwechsels. Es gibt zu jedem Thema mehrere Sichtweisen, die es wert sind, vor den Vorhang geholt zu werden. Dieser Blog widmet sich daher ein Jahr lang der Herausforderung, sinnvolle und faktenbasierte Alternativen zum politischen Mainstream aufzuspüren, die helfen könnten, wachsendes Unbehagen wirksam einzuhegen.
Die Mercosur-Falle
Tausche Jobs gegen billig
Irgendwie scheint es der Freihandelsvertrag der EU mit den führenden Volkswirtschaften Südamerikas (Mercosur) Ende 2024 doch noch auf die Zielgerade geschafft zu haben. Zumindest hat EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen jetzt den Vertrag nach 19 Jahren Verhandlungen den EU-Staaten unterschriftsreif vorgelegt. Aktuell fehlt nur noch der Sanktus einer qualifizierten Mehrheit der EU-Staaten und der größte Freihandelsraum der Welt wäre Realität. Das klingt recht motivierend, oder? Trotzdem sind die Bedenken gegen das Abkommen mehr als gerechtfertigt. Und das nicht nur wegen jener Gegenargumente, die schon lange auf dem Tisch liegen. Da lauert noch mehr Ungemach im Busch.
Dafür müssen wir jedoch die Perspektive wechseln. Denken wir gemeinsam den Mercosur-Vertrag, wie er aktuell in den Medien dargestellt wird, in die Gegenrichtung. Was also, wenn nicht der Export von beispielsweise Fahrzeugen aus Europa nach Südamerika das Ziel wäre, sondern der umgekehrte Weg? Immerhin sind längst alle namhaften Automarken mit Werken in Brasilien & Co vertreten. Das hat ihnen vor Ort schon jetzt Zölle, strenge EU-Auflagen und Produktions- bzw. Personalkosten erspart. Wer also glaubt wirklich, dass mehr (in der Herstellung) teure europäische Fahrzeuge den Weg nach Brasilien finden werden, nur weil die Zölle wegfallen? Besonders dann, wenn sie wie bisher in einer der günstigeren, weniger kontrollierten Fabriken vor Ort hergestellt werden können.
Was z. B. für Deutschland attraktiver wäre als der Export, ist der zollfreie Import von in Südamerika zu weit besseren Konditionen hergestellten Fahrzeugen der eigenen Marken. Damit ließen sich in Europa teure Personal-, Energie- und Materialkosten sparen und strenge Umwelt- bzw. Lieferketten-Auflagen leichter umgehen. Zudem wäre man näher an kritischen Rohstoffen für automotive Zukunftstechnologien. Das alles würde die Wettbewerbsfähigkeit der Konzerne massiv verbessern und die Ausrichtung der Branche auf künftige Marktbedingungen erleichtern. Lediglich müssten dafür Produktionskapazitäten der Fahrzeug- und Zulieferindustrie von Deutschland nach Südamerika verlagert werden. Aus dieser Perspektive ergeben die gerade bestreikten Massenkündigungen und Werksschließungen der Autoindustrie in Deutschland durchaus Sinn.
Dazu kommt, dass mit Brasilien als BRICS-Staat die Hintertüre für chinesische Produkte nach Europa sperrangelweit offenbleibt. Wir dürfen dabei ruhig davon ausgehen, dass Brasilien, wie bereits beim Klimaschutz heute, auch weiterhin als „Black Box für kreatives Management“ von internationalen Auflagen und Sanktionen fungiert. In diesem Fall gelangen z. B. günstige chinesische BYD-Elektroautos aus brasilianischen Werken zollfrei nach Deutschland. Damit müssten chinesische Unternehmen weniger bis keine Werke in der EU bauen, um ihre Produkte bis in die EU durchzureichen. Dieser Weg funktioniert auch in die Gegenrichtung. Deutsche Konzerne, die in einem BRICS-Staat produzieren, könnten dann an allfälligen Sanktionen vorbei leichter mit China dealen als auf direktem Wege.
Der eigentliche Deal für Europa allgemein und Deutschland im Speziellen im Rahmen des Mercosur-Abkommens wäre, auf die Primär-Wertschöpfung (Produktion inkl. Löhne) im eigenen Land zu verzichten und die Erlöse über den Handel und begleitende Dienstleistungen zu lukrieren. Oder radikal verkürzt: Die Arbeits- und Produktionskosten werden ins Ausland verlagert, dafür gibt’s günstige Produkte für den (Re-)Import.
Gerd Sendlhofer
Hinweise
Mercosur ist ein Staatenbund von Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay. Eine Freihandelszone mit der EU würde 715 Millionen Menschen betreffen.
Eine qualifizierte Mehrheit der EU-Staaten umfasst 20 von 27 Ländern mit zusammen 65 % der Bevölkerung oder mehr.
Aktuell befürworten fast alle EU-Staaten den Mercosur-Vertrag. Lediglich Österreich, Frankreich und Polen sind fix dagegen. Italien überlegt noch.
Besonders bewerten jene Länder/Branchen der EU das Abkommen positiv, die mangels Zöllen bessere Chancen für Industrieprodukte und Autos auf den südamerikanischen Märkten wittern. Negativ urteilen jene, die auf landwirtschaftliche Wertschöpfung setzen, da die hohen EU-Normen für Anbau und Verarbeitung leichter unterlaufen werden könnten. NGOs für Menschenrechte, Umwelt- und Klimaschutz sind zudem die südamerikanischen Produktionsbedingungen ein Dorn im Auge.
BRICS = Bündnis der „schnell wachsenden Volkswirtschaften“ von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika plus neuen Mitgliedern (ab 2024).
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