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Content-ID: 098|01 | Autor: Gerd | Stand: 14.7.2022

Dürre Zeiten

Nachricht aus der Zukunft

Apokalypse 2.0, Gänsehaut-Geschichten für den Lesesommer (siehe Hinweise) | Können Sie sich noch erinnern? An das Bild, das im Frühjahr durch die internationale Presse gegeistert ist? Inhaltlich ging es um den 4. Jahrestag des Starts der bis heute andauernden Dürrekatastrophe in Somalia. Ein sicher ehrlich gemeint und doch zynisch, weil wohlstands-distanziert, wirkender Beitrag über Not, Elend und Tod am Horn von Afrika. Gezeigt hat es ein verhungerndes Kind. Ein Mädchen, das, in den wohl letzten Atemzügen seines kurzen Lebens liegend, der Welt eine Nachricht hinterlassen hat. Den Blick direkt in die Kamera der Fotografin gewandt flüsterte sie über Zeit und Raum hinweg: „Wir kennen uns!“   

Jetzt hat Johann dieses Mädchen vorher noch nie in seinem Leben gesehen. Geschweige denn mit ihr gesprochen. Und trotzdem kam diese Botschaft für ihn ganz und gar nicht überraschend. Fast hörbar lag dieser Hinweis im Raum, dass sie beide etwas zu teilen schienen. Dass sie und Johann irgendetwas gemeinsam hätten, was sie zu Verbündeten machen könnte. Doch lag sie allein da auf ihrem zerlumpten Bett und schickte sich an, sich gnädig erlösen zu lassen. Johann erstarrte kurz, arrangierte sich jedoch vorerst mit der Unmöglichkeit, ihr zu helfen. Nicht dass es ihm egal gewesen wäre, was als nächstes passierte. Was nach dem Augenblick geschah, als das Klick der Kamera verhallt war. Ihn verwirrte vielmehr der Umstand, dass dieses Bild so real in sein Leben eingedrungen war. Eingebrochen mit einer Botschaft, die unschuldiger nicht sein hätte können. Ein „Wir kennen uns“ als sanfter Hinweis darauf, dass auch er Teil ihres Schicksals sein könnte. Sicher nicht als Täter, vielleicht als Provokateur. Eher aber als Unterlasser, als Wegschauer. Als jemand, der oder die Dinge nicht verhindert, die nicht zwingend passieren müssten.

Auch das Bild selbst wirkte beunruhigend. Einem Hologramm gleich schienen ihn die Blicke des Mädchens zu verfolgen, egal aus welchem Winkel er es betrachtete. So als wollte das Kind darauf hinweisen, dass es eine Botschaft gibt, die einfach ankommen muss. Ankommen muss bei Johann. Nämlich, dass dieses Foto nur eine von vielen möglichen Versionen einer Szene zeigt, die auch ganz anders hätte verlaufen können. Und plötzlich, einem Urknall gleich, ist Johann klar geworden, dass ihm das Mädchen aus der Zeitung tatsächlich nahesteht. Besser gesagt, einmal nahegestanden haben wird, bevor es an einem Leben zugrunde geht, für das er verantwortlich zeichnet. Nicht nur er, aber auch. Es ist seine, heute noch ungeborene, Urenkelin, die irgendwann den frühen Kampf ums Überleben in einer unwirtlich gewordenen Welt verlieren wird. Vor der Linse einer sensationsgeilen Kamera. Einfach verreckend, als Kollateralschaden einer gnadenlosen Gesellschaft. Somalia steht in diesem Bild für jeden Ort auf dieser Welt. Und das Mädchen für alle Opfer von Dürre, Hunger und Ausgrenzung aus einer Elite, die es sich auch in größter Not noch richten können wird.

Johann war es daher wichtig, dem Mädchen einen Namen zu geben. Lisa soll sie heißen. Und Anführerin in seinem Kampf gegen den Klimawandel wird sie sein. Nicht Somalia heute, die ganze Welt von übermorgen soll Lisas Reich sein. Sie wird ab sofort den unzähligen Warnungen vor dem rasenden Kollabieren unserer Umwelt ein neues Gesicht geben. Eine Stimme aus der Zukunft, die jenen Klima-Kämpfer*innen zur Seite eilt, die schon heute gegen die tödliche Trägheit der Gesellschaft ankämpfen. Und Lisa ist wirklich gut in ihrem „Job“. Einer PowerPoint-Präsentation gleich sendet sie Monat für Monat neue Beispiele des Klimawandels auf unsere Bildschirme. Hitzedrama in Indien, Dürre in Afrika, Waldbrände in Spanien, Wasserknappheit in Italien, Hautkrebs im Freibad von Neulengbach. Der aktuellen Realität entnommen, passen diese Schlagzeilen an jeden Ort dieser Welt. Und in jede Zeit. Auch Mitteleuropa, Salzburg Süd und der Bretterverschlag am Rand jenes Dürre-Feldes, in dem Lisa in 40 Jahren zu sterben droht, passen in die Bildgeschichte ihrer Vorhersagen. Doch macht sie auch Hoffnung. Hoffnung, dass Rettung möglich ist. Dass jemand aus ihrer Vergangenheit, also unserer Gegenwart, ihren und den Hungertod von Abermillionen anderen verhindern wird. Und Johann ist der felsenfesten Überzeugung, dass er dieser jemand sein kann, sein muss.

Ende A: Happy End »

Seitdem trägt Johann das Bild seiner künftigen Urenkelin bei sich. Es hilft ihm durchzuhalten, wenn es darum geht, selbst Akzente gegen den Klimawandel zu setzen. Weniger Konsum, weniger Zerstörung und mehr Respekt vor der Umwelt hat Johann schnell verinnerlicht. Weniger leicht ist es ihm gefallen, andere auf seine Reise in eine bessere Zukunft mitzunehmen. Leute zu motivieren, Menschen zu überzeugen und Leugner*innen gegenüberzutreten, ist seine Sache nicht. Auch wenn es schon eine breite Gemeinschaft gibt, die sich gegenseitig unterstützt, aktiv zu sein nimmt ihm niemand ab. Dabei aber hilft ihm das mittlerweile zerknitterte Bild in seiner Tasche. Mit jeder gelungenen Aktion scheinen die Augen des Mädchens mehr zu funkeln. Die schmalen Lippen werden voller und der ausgemergelte Körper scheint ein wenig zuzunehmen. So als würde sich langsam, aber beständig, die Zukunft zum Besseren verändern. Die Vorstellung, irgendwann das Foto herauszunehmen und anstatt eines sterbenden Mädchens ein frohes, lebendiges Kind zu sehen, gibt Johann die Gewissheit, dass Lisa leben wird. Dank ihm, zu ihrer Zeit, in ihrer Welt.

Ende B: Nichts für schwache Nerven »

Seitdem trägt Johann das Bild seiner künftigen Urenkelin bei sich. Es hilft ihm, die andauernden Niederlagen im Kampf gegen den Klimawandel zu verkraften. Die Demütigungen, die jemand erleiden muss, der sich den egoistischen Lebensplanungen der Eliten in den Weg zu stellen versucht. Johann hat gelernt zu hassen. Und zwar so abgrundtief, dass der schon heute die Mörder*innen seiner künftigen Urenkelin zur Rechenschaft ziehen möchte. Er befindet sich auf einem Kreuzzug gegen die Ignorant*innen einer ambitionierten Klimapolitik. Er stalkt die Leugner*innen des menschengemachten Klimakollapses und fordert Rechenschaft. Abseits des städtischen Trubels, im Dunkel der Nacht, lauert Johann ihnen auf. Meist sind es ältere weiße Männer, die ihm in die Falle gehen. Manager-Typen, die ihren Status auf Kosten der Umwelt und damit Lisas Leben geschaffen haben. Erst in ein Streitgespräch verwickeln. Dann ein brutaler Schlag ins Gesicht der überraschten Opfer. Das reicht, um keine Gegenwehr aufkommen zu lassen. Danach wieder und wieder zuschlagen, bis der Gegner regungslos, oft auch tot, am Boden liegt und Johanns Wut verrauchen kann. So auch heute wieder. Einmal noch zuschlagen, bevor die anrückende Polizeieinheit seinem Treiben ein Ende setzen wird. Und einen letzten Blick auf das Bild des sterbenden Mädchens werfen.

Salzburg, 7|2022 – Gerd

Hinweise

Apokalypse 2.0, Gänsehaut-Gschichtln für den Lesesommer. Herzlich willkommen zur nahezu fiktiven UNBEHAGEN-Grusel-Serie zu höchst realen Bedrohungen für die Menschheit. Im Fokus stehen jene Krisen, die vom Menschen ausgelöst, jedoch, wider besseren Wissens, nie unter Kontrolle gehalten wurden. Sie werden das Leben auf dieser Erde definitiv schlechter machen. Ziel dieser Geschichten ist es, ein radikaleres Bewusstsein für das Elend der Welt zu erzeugen und Panik zu schüren. Falsche Zeit, falsche Gemengelage? Wenn Sie meinen, in Zeiten wie diesen würden wir eher Gute-Laune-Storys brauchen, dann ist das Ihre Sache. Die Lage ist jedoch in vielfacher Hinsicht todernst. Und nur wer das rechtzeitig erkennt, wird noch einmal davonkommen …

Nebenstehende Geschichte inklusive Johann ist frei erfunden.

Apokalypse = Bildungssprachlich Unheil, Untergang, Grauen

Gemengelage = Bildungssprachlich Zusammentreffen von ungewöhnlichen Umständen

Hologramm = dreidimensionales Bild