EU Parlament

KOMMENTAR | Content-ID: 149|01 | Autor: Gerd | Stand: 6.6.2024
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EU Paradoxien

Von Wünschen und Wirklichkeiten

Es tut gut, dass im Vorfeld der nahenden Wahlen zum EU-Parlament das Thema Europa bei den Bürger*innen wieder einmal in den Vordergrund gerückt wird. Vor allem deshalb, weil im Abgleich von Ansprüchen und Wirklichkeiten wieder einmal sichtbar wird, wie unterschiedlich die Rolle der EU im Innenverhältnis, aber auch global interpretiert werden kann. Dabei pendelt die Erwartungshaltung vom Binnenmarkt für Waren und politischen Eitelkeiten bis hin zur ultimativen Gestaltungsmacht im Weltgeschehen. Interessierten Beobachter*innen ist dabei längst klar geworden, dass weder der protektionistische Rückzug auf nationale Werte und Wertschöpfung noch der Führungsanspruch beim Weltverbessern den aktuellen Stand im europäischen Werden widerspiegeln. Europa scheint auf dem Weg zu einer Einheit, wie wir sie uns jetzt schon gerne vorgaukeln, irgendwo in der Etappe gestrandet zu sein. Nicht wissend, ob wir weiter voranschreiten oder wieder umkehren sollen.

Zu dieser verzerrten Wahrnehmung der Gestaltungsmacht Europas tragen auch einige Paradoxien bei, die eine Umsetzung gemeinschaftlicher Programme verunmöglichen. Mein Lieblings-Paradoxon ist der Ansatz der EU, Migration über Rückhalte-Abkommen von Flüchtigen in nordafrikanischen Staaten einzudämmen. Wir Europäer*innen zahlen im Zuge dessen nur bedingt vertrauenswürdigen Regimen Geld dafür, dass sich weniger Migrant*innen auf den Weg übers Mittelmeer zu uns wagen. Dass dabei der Verbleib in diesen Ländern für die Betroffenen nicht minder gefährlich ist, wird jedoch mit dem Einwand abgewunken, dass das in der Verantwortung dieser Länder verbliebe. So weit, so gut. Zum Paradoxon wird diese Praxis vor allem dadurch, dass Europa an anderer Stelle Unternehmen dafür zur Verantwortung zieht, dass Güter und Leistungen u. a. ohne Verletzung von Menschenrechten hergestellt und geliefert werden. In der EU nennen wir das Lieferkettengesetz. Dass jedoch der gleiche Maßstab in der Migrationsfrage angewandt wird, und die EU dafür Verantwortung übernimmt, wenn Vertragspartner*innen gegen Menschrechte verstoßen, bleibt eine Fehlanzeige.

Nur zur Erinnerung: Tunesien, Marokko und Mauretanien sollen mit Zustimmung der EU Flüchtlinge in der Wüste aussetzen. Und der Libanon ist selbst Notregion und Kriegsschauplatz, der gerade heftig im Nahostkonflikt unter Druck gesetzt wird.

Nicht weniger paradox erscheint das vordergründige Bekenntnis Europas zum Klimaschutz, wenn im Hintergrund die vereinbarten Ziele wieder aufgeweicht und bereits beschlossene Maßnahmen einem potenziellen Wirtschaftswachstum geopfert werden. Gleiches gilt für dringende Projekte zur Rettung der Artenvielfalt, zur Regeneration der Umwelt oder Sicherung der Natur- und Wasserreserven. Immerhin geht es hier um die wichtigsten Kapitalien auf der Habenseite der Menschheit. Wenn daher der „Wohlstand“ der Menschen als Argument dafür herhalten muss, doch bitte die eigenen Lebensräume zu zerstören, ist tatsächlich Feuer am Dach. Ganz ehrlich: Wer, wenn nicht eine verschrobene Minderheit, sollte tatsächlich daran Interesse haben, den Ast abzuschneiden, auf dem sie selbst sitzt? Dabei wächst sich das „Economy-First“-Dilemma gerade zu einer multipolaren Krise aus. Einerseits soll die Wirtschaft dann das Klima retten, nachdem sie selbst gerettet wurde. Andererseits leidet die Wirtschaft weit mehr unter den geopolitischen Verwerfungen oder den Umwälzungen am Arbeitsmarkt als durch das Verfolgen von Klimazielen. Dabei sind Russland, China, der amerikanische Protektionismus oder das neue Selbstbewusstsein der Schwellenländer keine spontanen Krisenherde, sondern Herausforderungen, denen die EU längst hätte begegnen können.

Sie glauben mir nicht? Also: Der Ukraine-Konflikt hat bereits 2014 (Annexion der Krim durch Russland) bedrohliche Ausmaße angenommen, die von der EU bis 2022 verdrängt wurden. Was wir heute erleben, ist nur zum Teil die Konsequenz einer ambitionslosen Außenpolitik des aktuellen EU-Personals. Hätten die Verantwortlichen damals schon etwas Geschick und Mumm besessen, gäbe es heute kein Wettrüsten und Massensterben am Dnjepr. Auch, dass nach Donald Trump „America First“ transatlantisches Dogma bleiben wird, ist keine Überraschung. Vor allem deshalb, weil die USA seit je her ihr Selbstbild hegemonial verankert haben, nicht auf Augenhöhe mit anderen Staaten. Auch liegen die geopolitischen Visionen Chinas nicht erst seit gestern auf dem Tisch und Afrika ist nicht neuerdings stinkesauer auf europäische Selbstgefälligkeiten. Und trotzdem hat sich wider besseren Wissens Europa nie frühzeitig mit aufziehendem Ungemach auseinandergesetzt, sondern stets drauf vertraut, dass sich mit europäischem Geld alles regeln ließe. Ist aber nicht so, wie wir heute wissen.

Es grenzt deshalb leider auch an ein Paradoxon, sich zu wünschen, das demnächst neu zu wählende EU-Parlament hätte schon in all diesen Angelegenheiten die Macht und die Legitimation besessen, proaktiv im Auftrag der Bürger*innen zu handeln. Dem widerspricht nämlich die Struktur der EU, die dem Parlament zwar Macht verleiht, es jedoch auch dem Wohlwollen einzelner Nationalstaaten ausliefert und zu wirkungsarmen Kompromissen zwingt. Sollte die EU jemals zum politischen Rückgrat der Nationen und Regionen werden wollen, braucht es neben einer gemeinsamen Verfassung auch eine Aufwertung des Europäischen Parlaments. Und zwar nicht nur auf eine Ebene, die der Kommission und dem Europäischen Rat übergeordnet ist. Sondern auch in außenpolitischen Themen den nationalen Parlamenten vorgesetzt. Alles andere, wie zum Beispiel die Möglichkeit, dass Deutschland, Italien oder Frankreich im Rahmen der G7 nationale und nicht zwingend europäische Belange vertreten, war, ist und wäre daher auch weiterhin paradox. Darüber aber entscheiden wir (anteilig) bei den kommenden Nationalratswahlen und nicht bei jenen zum EU-Parlament Anfang Juni 2024. 

Salzburg, 6|2024 – Gerd

Hinweise

Aufruf: Egal, was (noch) nicht passt an der EU – besser wird es nur, wenn daran gearbeitet wird. Daher bitte, gehen Sie hin zur Wahl und bestimmen, wer das tun darf!

Hegemonie = „Herrschen über Herrscher*innen“ oder die Führungsrolle unter mehreren Staaten.

 

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