Content-ID: 092|01 | Autor: Gerd | Stand: 19.5.2022
Krieg und Frieden
Es (über–)lebe der Pazifismus
Jetzt ist im Sog des Überfalls Russlands auf die Ukraine doch tatsächlich ein offen-zynischer Schlagabtausch zwischen Militarist*innen und Friedens-Aktivist*innen entbrannt. Es geht dabei um nichts weniger als um die Frage, ob (atomare) Aufrüstung und Abschreckung den Frieden sichern können oder in einer Spirale der Gewalt münden müssen. Es scheint fast so, als ob Herr Putin höchstselbst die Regie zu diesem verwirrenden Schauspiel führen würde. Auf der einen Seite jene, die nur in militärischer Macht das Überleben des eigenen Einflussbereiches verorten. Auf der anderen jene, für die rüde Drohgebärden, Raketen und militärische Machtspiele den Rückfall in die Barbarei verkörpern. Oder, stark verkürzt dargestellt: die Muskelprotze gegen die Weicheier. In Europa, eigentlich ein Friedensprojekt hochentwickelter Zivilisationen, wirkt dieser Diskurs jedoch sehr künstlich aufgesetzt. Immerhin haben wir in der Vergangenheit gelernt, dass Wehrhaftigkeit und Gewaltfreiheit einander nicht ausschließen. Im Gegenteil: Gerade in unsicheren Zeiten braucht es wahrscheinlich beides – die Kraft zur Selbstbestimmung, aber auch eine Friedensperspektive ohne Wenn und Aber.
Aktuell erleben wir, dass Europa nach nur zwei Monaten „Krieg-Schauen“ über den Zaun zur Ukraine seine bisherige Verteidigungsdoktrin regelrecht geschreddert hat. Alle Nationen wollen jetzt aufrüsten. Und zwar möglichst rasch und möglichst viel. Deutschland reserviert zum Beispiel 100 Milliarden Euro zusätzliches Investitionsvermögen für die Bundeswehr. Und auch Österreich würde gerne investieren, auch wenn noch nicht feststeht, wofür und wieviel. Dazu haben Finnland und Schweden, beide bisher blockfrei, ihre Aufnahme in die NATO beantragt. Es sollen zudem mehr Atomwaffen in Europa stationiert werden. Und die Ukraine wird wohl über kurz oder lang in der EU und damit in einem Naheverhältnis zur NATO landen. Das wiederum zieht eine Frontlinie entlang des Donbass quer durch EU-Gebiet und fordert militärischen Beistand. So hat es der Handel mit Waffen und Waffensystemen wieder in die Liste der salonfähigen Wachstumsbranchen in Europa geschafft. Und zwar so nachhaltig, dass die Rüstungsindustrie schon als „Geheimwaffe“ zur Überwindung der anhaltenden Wirtschaftskrise gehandelt wird. Auch deshalb, weil sich mit roher Gewalt Wirtschaftsinteressen besser durchsetzen lassen als ohne.
Folgt man der derzeitigen Diskussion um Krieg und (späteren) Frieden, scheint die Militär-Lobby das Rennen um die Strategiehoheit in der Sicherheitspolitik für sich entschieden zu haben. Wir sind jetzt bereit, die kriegerische Sprache Russlands oder Chinas zu übernehmen. Das Bemühen, diesen autokratisch geführten Mächten über wirtschaftliche Verflechtungen unseren Zugang zu Frieden und Wohlstand schmackhaft zu machen, ist gescheitert. Mir fällt es schwer, aber auch ich erkenne hiermit an, dass die zivilisierte, friedliebende westliche Gesellschaft in dieser Angelegenheit kläglich versagt hat. Für mich ist damit aber der historisch gewachsene Pazifismus, der Europa so lange geprägt und meist sicher durch die Zeit nach dem 2. Weltkrieg geleitet hat, nicht endgültig gescheitert. Es muss auch weiterhin die Vision von einer waffenfreien und friedlichen Welt geben. Von einem Völkerverständnis, das auf Toleranz, Vertrauen und auf neidfreier Koexistenz beruht. Auch wenn aktuell gut 2 Drittel der Weltbevölkerung mit diesem Wertekatalog nichts anfangen können bzw. dürfen. Für die Lösung der aktuellen Herausforderungen der Menschheit ist friedliche Kooperation tausendmal effizienter als kriegerische Erpressung und Waffengewalt.
Dazu braucht es vor allem eine starke, geschlossene und friedensaffine Zivilgesellschaft. Und die beginnt mit dem gebührenden Respekt der militär-fixierten Mitbürger*innen für die vielen Friedens- und Demokratie-Bewegungen. Sie, und nicht jene mit dem Finger am Abzug, haben die Welt in den letzten Jahren zu einem besseren Ort gemacht. Wir reden dabei über Aktivist*innen und Idealist*innen, die alles andere sind als verweichlichte, wehleidige Nein-Sager*innen. Im Gegenteil: Diese Menschen riskieren ebenso oft Verhaftung, Folter, Diskriminierung und Tod, wie es die Soldat*innen auf den Schlachtfeldern dieser Welt tun. Zumindest gesellschaftliche Ächtung, Mobbing und behördliche Willkür haben viele der Friedens-Aktivist*innen auch hierzulande schon erleben müssen. Lediglich folgen diese Menschen der oben beschriebenen Vision aus freien Stücken und nehmen in Kauf, sich damit gegenüber einer gewaltbereiten Übermacht mehr zu exponieren, als gesund ist. Insbesondere in autokratischen Regimen geraten zivile Proteste immer wieder in die Schusslinie der Mächtigen. Erinnern wir uns doch an den Arabischen Frühling oder die Demokratiebewegung in China bzw. Hongkong. Oder die Zivilbevölkerung der Ukraine, die sich schon 2013/14 dem damals autoritären Regime entgegengestellt hat, und die belarussische Revolution 2020. Auch wenn diese Versuche, demokratische Grundrechte zu etablieren, blutig unterdrückt wurden, haben sie die Welt doch nachhaltig verändert. Sie haben Bewusstsein und Solidarität weit über die Grenzen der betroffenen Länder hinaus erzeugt.
Während militärische Abschreckung darauf baut, sich bis über beide Ohren bewaffnet regungslos zu belauern, schafft ziviles Engagement Veränderung. Zumindest erzeugt es die Chance, etwas zu bewegen. Voraussetzung dafür ist jedoch eine geschlossene Gemeinschaft der Bürger*innen, sich aktiv in die Gestaltung ihrer Heimat bzw. der Welt einzubringen. Wenn also das Ziel zivilen Engagements die Schaffung einer gewaltfreien Gesellschaft ist, dann sollten wir das mit aller Macht unterstützen. Auch damit, dass wir den Diskurs über Pro und Kontra von Aufrüstung und den Einfluss von Waffen auf die Weltgemeinschaft tatsächlich führen. Aktuell mögen die Argumente für militärische Aufrüstung überwiegen, auch wenn sie globale Bruchlinien erzeugt, die lange nicht zu kitten sein werden. Langfristig aber wollen doch die meisten unter uns Frieden und Kooperation über alle Grenzen hinweg. Diese Aufgabe schafft kein Militär der Welt. Dafür braucht es 8 Milliarden nicht-bewaffneter Zivil-Bürger*innen, die mit einer Stimme sprechen. Das wiederum haben die Friedens-Aktivist*innen und Pazifist*innen schon früh erkannt, gefördert und gefordert. Es verwundet mich daher, dass gerade in Kriegs- und Krisenzeiten, wie aktuell, diese Expertise nicht genutzt wird. Die gespielte Empörung und offene Häme der Kriegs-Lobby gegen pazifistisches Engagement passt einfach nicht. Haben wir nicht alle Frieden und Gewaltfreiheit als gemeinsame Vision? Dann wäre das Finden des Weges dorthin wohl die nächste Aufgabe. Worauf also warten wir?
Salzburg, 5|2022 – Gerd
Hinweise
Doktrin = politische Leitlinie
Blockfrei = keinem militärischen Verteidigungsbündnis zugehörig
NATO = Nordatlantisches Verteidigungsbündnis (USA, Kanada und mehrere europäische Staaten)
Donbass = russisch besetztes ukrainisches Staatsgebiet (Donezk und Luhansk)
Linktipps
ARD – Ist der Pazifismus am Ende? https://www.ardmediathek.de/video/monitor/ukraine-krieg-ist-der-pazifismus-am-ende/das-erste/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLWNjMjExNWFjLWRkYTktNGUxMi05ZDgxLWRmMTgyZDczNWY2Ng »
FM4 – Gibt es eine pazifistische Reaktion auf den Ukraine-Krieg? https://fm4.orf.at/stories/3022721/ »
Die Presse (nur mit Abo): https://www.diepresse.com/6140974/die-verhaengnisvolle-abkehr-vom-pazifismus »