KOMMENTAR | Content-ID: 163|01 | Autor: Gerd | Stand: 19.12.2024
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Leseschwächen
Wo liegt der Bildungs-BEP
Irgendwie war meine Erleichterung groß, nachdem ich gelesen hatte, dass die Zahl der Erwachsenen in Österreich, die des Lesens nicht mächtig sind, in den letzten Jahren rasant gestiegen ist. Nicht weil der damit erwiesene Abgesang unserer Zivilisation in mir positive Gefühle erzeugt hätte. Es war die Erkenntnis, dass zumindest ich diese Berichte lesen konnte und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen verstanden habe, die mir einen Rest an Zuversicht ließ und meinen Blutdruck im Zaum hielt. Wobei, könnte oder wollte ich nicht lesen, wären diese (dann gehörten) News wahrscheinlich ohne Nachhall durch meinen Kopf gerauscht. Mit einem saloppen „Mir doch egal!“ hätte ich diese Meldungen in meine „No-need-to-know-Schublade“ verschoben und mich munter weiter bevormunden, manipulieren und vereinnahmen lassen. So aber kamen nach dem ersten Aufatmen dunkle Vorahnungen für die Zukunft der Gesellschaft, wie wir sie kennen, auf.
Dabei geht es gar nicht darum, mich bildungspolitisch in die Verwaltung des Staates Österreich einzumischen. Dafür gibt es Expert*innen, die durchaus wissen, was zu tun ist. Jedoch wird deren (meist schriftlich verfasste) Expertise zu oft nicht gelesen, verstanden oder akzeptiert. Was mich wiederum zu dem Schluss bringt, dass die Leseschwäche und das damit oft einhergehende Fehlen an sinnerfassendem Verständnis selbst einfacher Sachverhalte auch in politischen Kreisen Einzug gefunden haben. Das aber darf kein Grund sein, Personen daran zu hindern, politisch aktiv zu werden. Im Gegenteil: Eine liberale Demokratie muss aushalten können, dass fehlende bzw. verweigerte Kulturtechniken wie Lesen oder Schreiben auch für populistisch getriebene Grabenkämpfe um Macht und Geld missbraucht werden. Dafür gilt es lediglich, den Rechtsstaat, die Bildungseinrichtungen und die Wissenschaft so weit zu stärken, dass Fakten eben Fakten bleiben, und dafür zu sorgen, dass diese den Menschen ungefiltert ins Bewusstsein gelangen.
Aktuell aber sieht es so aus, als würden wir die wohl wichtigsten Kulturtechniken für das Entstehen von Zivilisation, nämlich schreiben, lesen und verstehen zu können, opfern. Zum einen passiert das auf dem Altar der Bequemlichkeit im Alltag der Menschen. Es sieht so aus, als wäre Bildungsferne tatsächlich auch ein Wunsch des Volkes, um sich mehr den einfacheren Dingen des Lebens widmen zu können. Diese Entwicklung ist jedoch auch durch jene Kreise bewusst gesteuert, die eine möglichst denkfaule Bevölkerung brauchen, um sich selbst in die Positionen der Macht zu hieven. Wir hatten das schon einmal. Und zwar im tiefsten Mittelalter, als Bildung der Kirche und dem Adel vorbehalten blieb, die über das Lesen und Schreiben von Büchern Wissen nur in elitären Zirkeln verbreiteten. Und das, obwohl schon tausende Jahre davor Mathematik, Astronomie, Medizin oder Physik als Wissenschaften etabliert und über die Schrift der Nachwelt erhalten wurden. So aber konnten die Mönche gut rechnen, während das Volk bei der Festlegung des Steuer-Zehenten regelmäßig über den Tisch gezogen wurde.
Erst im 15. Jahrhundert half Johannes Gutenberg mit der Erfindung des Buchdruckes dabei, Geschriebenes massentauglich zu machen. Er ermächtigte damit die Menschheit, sich über größere Entfernung auszutauschen, Fähigkeiten und Wissen anzuhäufen und zu dokumentieren, was in Erinnerung bleiben sollte. Und zwar bis heute, wo Schrift zwar als selbstverständlich, aber aus der Mode gekommen wahrgenommen wird. Warum Lesen und Lösen (von Problemen), wenn die Führungsebene der Gesellschaft das mit Hilfe neuester Technik als Service anbietet? Immerhin sind wir aktuell in einer Phase angekommen, in der das Fällen von Entscheidungen, einschließlich der dafür nötigen Wissensarbeit vorher, arbeitsteilig nach oben verlagert wird. Die Politik und KI schaffen Wohlstand, vollziehen Recht, sorgen für Sicherheit und wehe, wenn nicht. Gelingt es jedoch, können wir einfachen Leutchen uns auf die angenehmen Dinge des Lebens konzentrieren. Und die haben immer weniger mit dem zeitaufwendigen Aneignen von Wissen und Fähigkeiten zu tun.
Die erhobene Bildungsferne ist jedoch nur bei einem Teil der in der OECD-Studie 2023 genannten Betroffenen systembedingt. Dafür braucht es dringend politische Ansätze. Für den Rest sind die festgestellten Defizite jedoch das Ergebnis bewusst getroffener Lebensentscheidungen. Immerhin leben wir in einer Zeit, in der die Rahmenbedingungen unseres Daseins gebrauchsfertig ausgerollt sind. Jetzt eigenes Engagement für Dinge zu entwickeln, die die Gesellschaft gerade evolutionär aussortiert, klingt widersinnig. Daher ist Bildung für viele Leute, die sich bedingungslos mit dem Hier, dem Heute und mit der KI arrangiert haben, verschenkte Zeit und lästige Bürde. Und das macht mir Angst. Diese zunehmende Zahl an Bildungsaussteiger*innen schafft jetzt, wo Kooperation mehr denn je gefragt ist, Chaos.
Daher braucht es neben engagierter Bildungspolitik wieder mehr zivilisatorische und motivatorische Impulse bis in die letzten Ecken der Gesellschaft. Lesen ist cool, schreiben macht glücklich und selbst Probleme zu lösen ist sexy. So wie schon in früheren Generationen Bildung als wertvolles Gut und nicht als Belastung gegolten hat. Danke daher Maria Theresia für die Einführung der Schulpflicht (1774), danke Frau Straudi (meine Grundschullehrerin 1970-1974) und danke meinen Eltern (bis heute), dass ich all des lernen durfte, was es zu lernen galt, gilt und weiter gelten wird.
Das bringt mich wieder an den Anfang zurück – zur Frage nach dem Bildungs-BEP. Wo liegt Ihrer Meinung nach jenes Mindestmaß an persönlicher Bildung und Kernkompetenzen, um am „Standard-Lebensmodell“ der Jetztzeit teilhaben zu können? Und welches individuelle Bildungsniveau braucht im Schnitt eine demokratisch organisierte Gesellschaft, um sich selbst erhalten, schützen und weiterentwickeln zu können?
Salzburg, 12|2024 – Gerd
Hinweise
BEP = Break Even Point = (salopp ausgedrückt) Einstieg in die Gewinnzone
Laut einer aktuellen Studie der OECD (PIAAC) zum Bildungsstand in den Mitgliedsländern können in Österreich knapp 30 % aller Erwachsenen (16-65 Jahre) maximal einfachste Leseaufgaben bewältigen. Gut ein Viertel (27 %) stößt im Bereich „Adaptives Problemlösen“ schnell an Grenzen und ist bestenfalls in der Lage, einfache Aufgaben mit nur wenigen Variablen zu lösen (Kompetenzstufe 1 = 10-Jährige). Wer sich jetzt bei den genannten Prozentzahlen an die FPÖ-Ergebnisse der vergangenen Wahlen erinnert fühlt, liegt zwar daneben. Fakt ist jedoch, dass diese Schwächen bei der Anwendung zentraler Kulturtechniken alle Bevölkerungsschichten betreffen.
Linktipps
Survey of Adult Skills, Reader’s Companion: https://www.oecd.org/en/publications/survey-of-adult-skills-2023_3639d1e2-en.html »
Der Standard: https://www.derstandard.at/story/3000000248672/29-prozent-der-erwachsenen-in-214sterreich-haben-probleme-beim-lesen »
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