Auf nach Westen

Content-ID: 085|01 | Autor: Gerd | Stand: 24.2.2022

Westerweiterung

Russia goes Europe

Jetzt ist es tatsächlich passiert. Trotz endloser Verhandlungen und üppiger Drohkulisse des Westens hat sich Vladimir Putin doch noch auf den Weg in die Ukraine gemacht. Schwer bewaffnet, selbstbewusst und mit der Option eines ganz großen Raubzuges bis an die Grenzen Europas. Dabei hat sich die ganze Welt ins Zeug gelegt, um dieses Szenario zu verhindern. Auch Europa, das bis zum Schluss auf gut Zureden und Beschwichtigung gesetzt hatte und damit krachend gescheitert ist. So, als wollte man mit dem Rottweiler, der gerade das Reh reißt, darüber diskutieren wollen. Mehr aber haben wir aktuell nicht drauf. Zurück bleibt die Erkenntnis, dass Europa seine Verhandlungsmacht im Wettstreit der Großmächte wohl endgültig eingebüßt hat. Damit fehlt es auch den ambitionierten Ansagen einer europäischen Führerschaft bei globalen Zukunftsthemen mehr und mehr an Glaubwürdigkeit. Der neue europäische Traum, der Welt Frieden, Wohlstand, Klimaschutz und Gerechtigkeit über Argumente zu vermitteln, ist mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine geplatzt.

Für einen Dialog braucht es nun einmal zwei Parteien. Eine, die spricht, eine, die zuhört, und umgekehrt. Wer aber von den Einflussmächten der Weltpolitik hört Europa heute noch zu? Während Europa, allen voran Deutschland, immer „darüber reden“ möchte, hat die Gegenseite meist längst Fakten geschaffen. Aktuell hat sich die Einschätzung von Frau Baerbock, solange mit Russland verhandelt würde, würde nicht geschossen, als fataler Irrtum erwiesen. Nur zur Erinnerung: Präsident Putin hat mit den USA und Europa noch telefoniert, während seine Leute schon den Abzug betätigt haben. Klar wäre es schön, würden sich die Probleme unserer Zeit immer mit erhobenem Zeigefinger und altkluger Rhetorik lösen lassen. Tun sie aber nicht! Insbesondere jetzt, wo Europa rasant an Einfluss in dieser Welt verliert, bräuchte es wieder einmal Zeichen der Stärke, nicht nur inhaltsleere Worte. Das bedeutet nicht zwingend Waffengewalt, wohl aber ein neues Selbstbewusstsein und den Willen, die eigenen Werte auch unter Schmerzen und/oder mit Einbußen zu verteidigen.

Parallele Welten

Vielleicht ist es heute einfach zu wenig, sich auf die ökonomische Potenz Europas als einzigen Trumpf im internationalen Wettbewerb zu verlassen. Immerhin erwirtschaften europäische Leitbetriebe längst einen Gutteil ihrer Wertschöpfung auf fernen Märkten. Internationale Krisen schaden dabei nur der Produktivität und Rendite. Aber auch das Wachstumspotenzial in Europa hat sich gefährlich seinem Plafond genähert. Die Zukunft wirtschaftlicher Expansion spielt sich in anderen Welt-Regionen ab. Dort aber matchen sich längst China, die USA, Russland und regionale Schwellenländer um die ökonomische und politische Vormachtstellung. Europa sitzt bei der Neuverteilung der Märkte und Ressourcen dieser Welt nur mehr als Zaungast am Verhandlungstisch. Damit ist aber auch der Plan, Wohltaten wie Menschenrechte, Fairness und Klimaschutz als Beigabe wirtschaftlichen Segens über die Welt zu breiten, vorerst einmal gescheitert.

Wer glaubt heute tatsächlich noch, dass sich Russland oder China ernsthaft um Menschenrechte oder Klimaziele scheren würden? Oder dass die afrikanischen Staaten dem lauwarmen Werben der ehemaligen Kolonialmächte nachgeben, wenn an anderer Stelle schon mit Dollars, Yuan, Rubel und Waffen bezahlt wird. Wer vertraut noch darauf, dass sich die USA im eigenen Überlebenskampf nach dem erhobenen Zeigefinger von uns Europäer*innen richten würden? Oder dass sich, nach dem Scheitern der Bemühungen um die Ukraine, irgendein Land ein europäisches als Seniorpartner wählen würde? Europa und der Rest der Welt haben aktuell einfach zu verschiedene Ansprüche. Wobei eben dieser Rest der Welt bereit ist, eigene Forderungen auch mit Waffengewalt durchzusetzen. Das bereitet durchaus Unbehagen! Es ist gut, dass die EU als Friedensprojekt global voranschreiten und kriegerische Auseinandersetzungen vermeiden möchte. Schade nur, dass (fast) niemand mehr bereit ist, diesen Weg mitzugehen. Deshalb hängt plötzlich auch die europäische Initiative zur Rettung des Klimas oder Durchsetzung von Menschenrechten in fremden Ländern in der Luft. Und das nur, weil Europa verlernt hat, sich physisch in Szene zu setzen und damit Kante zu zeigen.

Goldener Käfig Europa

Was der russische Präsident längst erkannt hat, wird den Europäer*innen wohl erst in den kommenden Jahren bewusst werden. Wenn überhaupt. Der eigentliche Feind der europäischen Wertewelt lebt nämlich in Europa selbst. Und damit sind nicht die antidemokratischen Strömungen in einzelnen Staaten gemeint. Es ist die bis zum Erbrechen gesättigte Wohlstandsgesellschaft, die jede ernsthafte Auseinandersetzung um globale Teilhabe meidet. Dort, wo um Einfluss und begrenzte Ressourcen gerungen werden muss, sind schöne Worte aber zu wenig. Wir Alt-Europäer*innen kämpfen lieber gegeneinander um ersessene Rechte und um mehr Butter auf dem Brot. Dabei müssten wir endlich unseren Platz im Konzert der Großen als den wichtigsten Schlüssel für unsere Zukunft anerkennen lernen. Der aber kostet Geld, Schweiß, Blut und Tränen. Die schleichende Domestizierung der Bürger*innen durch Sicherheits- und Wachstumsversprechen aber hat unser aller Überlebenschancen im Krisenfall längst aufgefressen. Wir sind bequem, verwöhnt, wehleidig und unentschlossen geworden. Egal, ob es sich um Nationen oder Konzerne handelt: Europa ist gegenüber den globalen Player*innen nahezu wehrlos geworden. Deshalb werden wir, sobald uns etwas abverlangt wird, immer klein beigeben.

In zwei bis drei Jahren wird sich Europa dem hegemonialen Streben Russlands wieder ein Stück mehr unterworfen haben. Allein die Gefahr, dass Russland mit der Annexion der Ukraine beide Nord Streams nach Europa kontrollieren könnte, übersteigt die Selbsterhaltungskompetenz der Europäer*innen. Spätestens dann wird die Ukraine als Kollateralschaden abgeschrieben und mit Russland wieder gehandelt, kooperiert und investiert werden, als ob nie etwas gewesen wäre. Auf der Strecke aber werden dann die Pläne der europäischen Kommission geblieben sein, der Welt bei der Bewältigung dringender Probleme voranzuschreiten. Eigentlich wollten wir auch über das Klima, Menschenrechte und Fairness verhandeln. Wie aber soll das funktionieren, wenn wir von den Großmächten dieser Welt nicht für voll genommen werden?

Salzburg, 2|2022 – Gerd

Hinweise

Warnung: Auch im Westen von Europa läuft nicht alles nach Wunsch. Besonders, wenn Donald Trump die nächsten Wahlen in den USA gewinnen sollten, ist zu befürchten, dass sich auch unser größter militärischer Bündnispartner abwendet. Es bleibt für Europa daher nur noch wenig Zeit, international endlich erwachsen zu werden.

Annalena Baerbock = deutsche Außenministerin

Yuan = chinesische Währung

Schwellenländer = aufstrebende Wirtschaftsnationen wie Indien, Brasilien, Südafrika etc.

Rubel = russische Währung

Domestizierung = abhängig und gefügig machen

Hegemonie = Vormachtstellung

Annexion = gewaltsame und widerrechtliche Aneignung fremden Gebiets

Nord Stream (1 und 2) = Gas-Pipelines aus dem Osten nach Europa

Kollateralschaden = in Kauf genommener Schaden