Wette auf die Lieferkette

KOMMENTAR | Content-ID: 130|01 | Autor: Gerd | Stand: 7.9.2023
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Wette auf die Lieferkette

Vorweggenommene Marktreaktionen

Teil 2 der Miniserie: Wenn fremde Mächte übernehmen | „Chancen sind zum Nutzen da“. Ich gebe zu, ich habe das Lieferkettengesetz, das aktuell den EU-Entscheidungsprozess durchläuft, noch immer nicht ganz verstanden. Nicht dass ich mir mit den bislang veröffentlichten Statements kein Bild dazu malen könnte, welche Veränderungen zum Positiven über dieses Gesetz eingeleitet würden. Ich versuche jedoch, das Projekt weiterzudenken und mir die Mächtigkeit jener Regelungen vorzustellen, die sehr massiv in die Wertschöpfung europäischer Unternehmen eingreifen werden. So wie sich die bisher bekannten Texte lesen, ließe sich das LkSG auf eine Aussage verdichten: „Die auf den Märkten erhofften, jedoch ausbleibenden Reaktionen der Konsument*innen auf Verfehlungen von Unternehmen können ab sofort hoheitlich eingeleitet werden“. Oder kurz und knapp: „Wer Scheiße baut, darf nichts mehr verkaufen.“

Und da bin ich ganz bei den Gesetzgeber*innen auf EU-Ebene. Seit Jahrzehnten wartet die Welt darauf, dass die Konsument*innen jene Unternehmen durch Kauf-Enthaltung strafen, die gegen Menschenrechte, Umweltbestimmungen, Fairness und diverse andere Grundrechte verstoßen. Lediglich getan haben sie es nie, die Kund*innen von Modelabels oder Lebensmittel-Konzernen. Sie haben zwar ob gemachter Vorwürfe die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Trotzdem waren ihnen niedrige Preise, hohe Verfügbarkeit und ein Wettbewerb am moralischen Limit einfach wichtiger. Damit ist jetzt Schluss. Zumindest wenn es nach dem Papier geht, das zurzeit durch ganz Europa gereicht wird. Jetzt haben NGOs und direkt Betroffene die Möglichkeit, Fehlverhalten anzuklagen und empfindliche Sanktionen einzufordern. Mit hohen Erfolgsaussichten, wie es aktuell scheint. Es lassen sich nämlich sämtliche Verfehlungen künftig an wenigen Schnittstellen der Lieferkette festmachen, um betroffene Unternehmen zu Reaktionen zu zwingen. Egal, an welcher Stelle in der Kette sie sich befinden.

Glauben Sie meinem Bauchgefühl, diese Schnittstellen werden intensiv genutzt werden, um schwarze Schafe zur Rechenschaft zu ziehen. Egal, ob original italienische Tomaten-Sauce aus chinesischer Massenproduktion, Blut-Kobalt aus dem Kongo oder Wasserstoff aus autokratischen Staaten des Nahen Ostens oder Afrikas. Es wird Kläger*innen geben, die zwielichtige Produkte und Leistungen aus den Regalen und Portfolios zu verbannen suchen, die ohne das Gesetz wohl noch lange zu den Cashcows der heimischen Wirtschaft zählen würden. Aber genau darauf kommt es an. Nämlich nicht nur Absichten zu erklären, sondern die erwünschten Effekte auch konsequent einzufahren. In absehbarer Zeit wird es reichen, die großen Handelsketten an ihre Sorgfaltspflicht zu erinnern, um nur saubere und fair erzeugte Produkte in Europa anzubieten. Ich persönlich würde sogar dafür plädieren, Verfehlungen gegen EU-Recht bei Mindestlöhnen, Tierwohl, Artenschutz, Renaturierung, beim Wegwerfen von Lebensmitteln oder der Vernichtung von Retourware etc. in das Gesetz einzubeziehen.

Und genau hier beginne ich zu zweifeln, ob ich das Gesetz tatsächlich verstanden habe.

Es entsteht durch die Öffentlichkeitsarbeit der EU-Institutionen nämlich der Eindruck, dass überwiegend Zulieferbetriebe aus Dritt-Staaten in klassischen Massenbranchen im Fokus stünden. Meinem Verständnis nach sind damit aber auch europäische Unternehmen mitgemeint. Das heißt konkret, dass Landwirt*innen, die Hungerlöhne zahlen oder in großem Stil Pestizide einsetzen, nicht an die großen Handelsketten liefern dürfen. Auch Fleisch-Produzent*innen, die ihre Tiere zur Mast und zur Schlachtung unter elendigen Bedingungen durch halb Europa karren. Ebenso müssten Transportunternehmen mit zu hohem CO2-Fußabdruck aus der Lieferkette verbannt sein. Auch Betriebe, die geschlechter-unterschiedliche Gehälter zahlen, Hilfskräfte in versifften Unterkünften beherbergen, Vorbehalte gegen andere Hautfarben und sexuelle Orientierung pflegen oder sich Greenwashing, Fake-News und Korruption bedienen. Klar, gegen die eine oder andere Verfehlung gibt es andere Gesetze. Das Verschließen von Schnittstellen direkt zum Markt wäre jedoch das effektivste Mittel, um rasch und nachhaltig für faire, saubere Bedingungen zu sorgen.

Auch hege ich die Befürchtung, dass nicht alle europäischen Länder, inklusive jener, die der EU beitreten wollen, diesen Bestimmungen gleichermaßen unterworfen sein könnten. Ebenso wie Länder, die über Handelsverträge mit der EU-Wirtschaft eng verbandelt sind. Im Klartext: Bestehende und künftige Vereinbarungen mit Dritt-Ländern dürften keine Ausnahmen und Sonderregeln zu den Lieferketten-Bestimmungen beinhalten. Das würde die EU-Binnen-Wirtschaft unterlaufen und den befürchteten Abfluss an Produktivität und Wertschöpfung beschleunigen. Mehr noch (unterstelle ich), als nicht-LkSG-konforme Handelsverträge ausgleichendes Wachstum bringen können. Besonders beunruhigt mich in dieser Angelegenheit aber, dass all meine Rechercheanfragen zu den oben genannten Punkten bis dato unbeantwortet geblieben sind. Vielleicht mache ich mir einfach zu viele Sorgen und das Lieferkettengesetz der EU hält all das, was schon heute in und zwischen den Zeilen geschrieben steht. Es ist mir bewusst, dass meine vorangegangenen Interpretationen wie eine Drohung in den Ohren eines Teils der etablierten Wirtschaft klingen müssen. Ich vertraue aber einfach einmal darauf, dass die Verhandler*innen dieses Gesetzes es vollinhaltlich und konsequent durchziehen – auch auf die Gefahr hin, dass es anstrengend wird, die negativen Folgen rasch und nachhaltig auszugleichen.

Salzburg, 9|2023 – Gerd

Hinweis

Irgendwie scheinen mir Politik und Wissenschaft etwas lax im Umgang mit künftigen Bedrohungen. In der aktuellen Mini-Serie geht es deshalb darum aufzuzeigen, wo ich mir mehr Konsequenz und weniger Prinzip Hoffnung wünschen würde.

LkSG = Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz

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