zeitenwende

KOMMENTAR | Content-ID: 114|01 | Autor: Gerd | Stand: 26.1.2023

Wo bleibt die Zeitenwende?

Wort und Unwort des Jahres 2022 zugleich

Herr Scholz, seines Zeichens Bundeskanzler von Deutschland, hat es quasi „erfunden“, das deutsche Wort des Jahres 2022. Es heißt „Zeitenwende“. Gemeint hat er damit die neuen Herausforderungen durch den Angriff Russlands auf die Ukraine. Vordergründig in Bezug auf die globale Sicherheit, mit Untertönen aber wohl auch auf die deutsche Wohlstandsgesellschaft bezogen. Für mich ist es eher das Unwort des Jahres, weil ich damit den Zustand der Welt verbinde, in jeder Hinsicht. Und, obwohl sich einiges verändert hat, gewendet hat sich so gut wie nichts. Zumindest nichts außer die täglichen Schlagzeilen von einem optimistischen in einen panischen Unterton. Denn politisch herumgeeiert wird in Deutschland, aber auch Österreich und vielen anderen Staaten wie eh und je. Mit der traurigen Konsequenz, dass die Probleme für die und auf der Erde weiter ungelöst bleiben. Vielleicht liegt es daran, dass das Wort „Wende“ eher nach umdrehen, also nach „zurück zu den Fehlern der Vergangenheit“, klingt als nach neuen Zukunftsszenarien. So als würde die Politik das Steuer bei voller Fahrt herumreißen, um in Richtung Vorgestern zu brettern. Wollten wir aber vorankommen, müsste dann das Wort des Jahres nicht Neustart heißen?

Vielleicht hilft es ja, die unmittelbare Vergangenheit, die Zeit der sich gegenseitig hochschaukelnden Krisen, anders zu erkunden als üblich. Andere Fragen zu stellen und neue Sichtweisen zuzulassen als medial vorgezeichnet. Dann fällt nämlich auf, dass die Verantwortlichen die Herausforderungen der Zukunft noch immer mit den Mitteln der Vergangenheit zu lösen suchen. Wie sich jedoch zeigt, wirkt das aber oftmals kontraproduktiv. So sehr, dass aus der herbeigeredeten Zeitenwende mittlerweile eine Phase der Zeitverschwendung geworden ist. Eine Ära der Konzept- und Mutlosigkeit, in der Chance um Chance für eine bessere Welt vergeben wird. Vielleicht liegt es ja daran, dass die globalen Probleme „top down“, also von höchster Stelle herab, gelöst werden wollen. Aber tun sie das wirklich? Ist nicht der Versuch, über verwässerte, aufgeweichte internationale Konsense Probleme zu lösen, dem gewünschten Ergebnis abträglich? Haben wir nicht schon zu oft erlebt, dass Lobbyist*innen, Veto-Mächte und Quertreiber*innen Entwicklungen bremsen, die dringend notwendig wären? Dafür, dass lediglich die Vereinbarung von Zielen nicht zwingend zu deren Erreichung führt, ist das Pariser 1,5-GradZiel in der Klimadiskussion wohl das beste Beispiel. Wir wären tatsächlich schon erheblich weiter, wenn öfter auf die UNO gepfiffen und in kleinerem Rahmen für neue Spielregeln gesorgt würde.

Lassen Sie mich anhand eines Beispiels darlegen, dass es zu festgefahrenen Entwicklungen auch andere Ansatzpunkte und Lösungswege geben kann als die vermeintlich „alternativlosen“.

Mehr Macht den Entwicklungsländern

Verfolgt man die Diskussion um mehr Fairness im internationalen Miteinander der Nationen, stößt man rasch auf Widersprüche. Beispielsweise wird seit Jahren über einen gerechten Ausgleich von Schäden in Ländern diskutiert, die besonders unter dem Klimawandel leiden. Leider ergebnislos: Zu sehr wehren sich jene Staaten mit hohen Treibhausgas-Emissionen dagegen, die offene Rechnung in vollem Umfang und mit barer Münze zu begleichen. Dabei gäbe es andere Möglichkeiten für eine angemessene Lösung des Problems. Es müssten Länder wie die USA, China oder Deutschland endlich beginnen, dauerhaft faire Preise für (wertvolle) Rohstoffe und Ressourcen zu bezahlen, die sie aus den armen Regionen importieren. Tun sie aber nicht. Im Gegenteil. Für Deutschland heißt in diesem Zusammenhang „Zeitenwende“ eher ein Zurück in koloniale Strukturen. Dafür sucht es krampfhaft nach Wegen, weiter günstig auf Ressourcen zugreifen zu können, die eigentlich für den Wohlstand anderer Länder sorgen sollten. Und das auch noch für Produkte und Leistungen, die eigene Ambitionen in der Klimapolitik konterkarieren. Fakt ist, dass auch Kobalt, Nickel, Erdgas, Wasserstoff, Lithium, seltene Erden & Co einen fairen Preis verdient haben. Und der sollte betroffenen Staaten ausreichende Einkünfte sichern, um nicht nur von Almosen oder teuren Krediten abhängig zu sein. Dafür aber braucht es eine echte Zeitenwende.

Warum also nicht den Spieß umdrehen und arme Staaten einen Umgang auf Augenhöhe einfordern lassen? Das beginnt bei Preisaufschlägen für Unternehmen aus Industrie-Ländern mit überhohem Pro-Kopf-CO2-Ausstoß. Dafür stehen das europäische Lieferkettengesetz und die Erkenntnis Pate, dass Fairness und Preisbildung durchaus miteinander verquickt werden dürfen. Und es endet bei einer Verarbeitungspflicht dieser Rohstoffe in der Region, in der sie gefördert wurden. Bezahlt von den Abnehmer-Unternehmen auf Basis fairer Löhne und üblicher Margen. Dazu kommen Steuer- und Sozialleistungen vor Ort und ein nennenswerter Ausgleich für Klimafolgen in Form einer Haftpflicht. Und zwar so lange, bis die Industrienationen ihre Klimaziele erreicht haben. Wer das nicht zahlt, kriegt nichts. Klar, das würde nur bei wirklich armen Ländern ohne Angebotsvielfalt funktionieren, denen nicht mit Gegenmaßnahmen an anderer Stelle gedroht werden kann. Oder bei Länder-Gemeinschaften (siehe EU, OPEC & Co), die ihre Stärken und Schwächen gemeinsam verwalten. Damit aber wären die UNO-Klimakonferenzen wieder für deren Kernaufgabe freigespielt. Gemeint ist die Reduktion von Treibhausgasen und nicht das Feilschen und Betteln um ein Mindestmaß an Fairness.

Sollten wir tatsächlich als Menschheit das Steuer herumreißen wollen, also eine Zeitenwende in Richtung lebenswerter Zukunft anstreben, werden wir wohl öfter Neues ausprobieren müssen als bisher. Die Herausforderung heißt daher für 2023, andere Lösungen zuzulassen, als jene, die zwar bekannt sind, sich jedoch längst als ungeeignet erwiesen haben. Das gilt für den Klimawandel ebenso wie für sich auftuende gesellschaftspolitische Gräben, die weltweite Konfliktsituation oder wirtschaftliche Konzessionen, die verhandelt werden müssen. Deshalb heißt mein Wort des Jahres 2023 „Empowerment“ oder auf gut Deutsch: Mehr zählbare Macht den weniger privilegierten Menschen und Ländern dieser Welt! 

 

Salzburg, 1|2023 – Gerd

Hinweise

Die Idee von Rohstoffkartellen, die stärker auf die Preisgestaltung ihrer Ware achten, ist nicht neu. Und sie hat in Deutschland und anderen Wirtschaftsmächten bereits heftige negative Reaktionen nach sich gezogen. Besonders für Unternehmen, die mit niedrigen Einstandspreisen in den Wettbewerb ziehen (müssen), endet Fairness naturgemäß an der eigenen Werkstüre. Daher besteht auch die Angst zu Recht, dass derartige Interessensverbände zu „gierig“ oder mit politischem Hintergrund agieren, um Preise künstlich zu manipulieren. Immerhin wissen wir aus der Geschichte der Industrie-Nationen, wie sehr Wirtschaft auch für Erpressung missbraucht werden kann. Jedoch andenken lässt sich ein fairer Modus, mit dem auch ärmere Länder ihren Ansprüchen Gewicht verleihen können, allemal.

Konterkarieren = torpedieren, durchkreuzen, hintertreiben

Konzession = eigentlich ein Nutzungsrecht, in diesem Fall Zugeständnis

Empowerment = englisch für Ermächtigung

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