Reiselust

KOMMENTAR | Content-ID: 131|01 | Autor: Gerd | Stand: 21.9.2023
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Zuviel des Guten?

Das Missverständnis „Overtourism“

Teil 3 der Miniserie: Wenn fremde Mächte übernehmen | „Sich mit dem Fremden arrangieren“. Barcelona wehrt sich, Venedig zockt ab und Hallstadt verzweifelt. Immer, wenn irgendwo auf der Welt Ferien sind, versinken Orte wie diese in einer Flut von Reisenden. Stadt unter, könnte man sagen, wenn Massen aus fernen Ländern das Kommando übernehmen und sich die „Autochthonen“ gefügig machen. Noch scheinen die Tourismus-Einnahmen auszureichen, um sich mit dem steigenden Ungemach zu arrangieren. Win-Win aber ist die aktuelle Situation in den touristischen Massen-Destinationen längst nicht mehr. Braucht es nicht längst Auswege aus dem Dilemma, zwar Geld verdienen zu wollen, aber nicht unter den aktuellen Bedingungen? Gibt es überhaupt einen Ausweg? Und warum freuen wir uns nicht einfach, wenn Menschen in friedlicher Absicht vorbeischauen, um uns, der heimischen Bevölkerung, ihre Aufwartung zu machen?

Wir kennen doch weit weniger erfreuliche Beweggründe, fremde Länder heimzusuchen. Sei es mit Panzern, um sich territorial zu verbessern. Auch mit Baggern für die Ausbeutung von Bodenschätzen, mit Fabriken für die Ausbeutung von Arbeitskräften oder mit Demokratieversprechen, ohne sie jemals einzuhalten. Oder aber auf der Flucht, wenn verzweifelte Menschen bei jenen reichen Ländern anklopfen, die in der Vergangenheit zwar fleißig Krisen gesät, aber nie die Folgen geerntet haben. Aber jetzt ganz ehrlich, was ist so verwunderlich daran, wenn andere Völker das nachahmen, was wir, die ersten auf dem Industrialisierungspfad, ihnen vorgelebt haben? Immerhin waren wir, die stinkreichen Industrie-Landler, die ersten, die sich in anderen Kulturen wie mit dem Holzhammer aufführten. Wer von uns Mitteleuropäer*innen ist diesbezüglich frei von Schuld – auch touristisch?

Es werfen jene Salzburger*innen den ersten Stein, die nicht schon an verstauten Autobahnen vorbei, durch idyllische Ortschaften den Schleichweg in den Süden gesucht haben. Oder jene Wiener*innen, die nicht schon an den zunehmend vermüllten Stränden des Mittelmeers ihren Liegeplatz verteidigen mussten. Wer ist nicht schon durch die historischen Altstädte ferner Länder gebummelt, um an Souvenirständen um wenige Cent zu feilschen? Und wer liebt nicht „All inclusive“, „All you can eat“, „Bikers welcome“ und „Wir sprechen Deutsch“? Es waren wir bzw. unsere eigenen Landsleute, die den emotionalen touristischen „Overload“ und den damit verbundenen Frust und Groll der jeweils Einheimischen gegen die Gäste der Saison erst erfunden haben. Fragen Sie diesbezüglich doch einmal die Menschen in Italien, Spanien oder Kroatien. Und wir pflegen ihn an beiden Enden noch immer, diesen „Overload“. Sowohl als anmaßende Gäste in fernen Ländern als auch als frustrierte Gastgeber*innen für anmaßende Menschen aus diesen.

Dem gegenüber steht, dass jedes Quäntchen mehr an Reisefreiheit auch für ein politisches, und die reale Nutzung dieser für ein wirtschaftliches Zeichen von Wohlstand und Frieden auf dieser Welt steht. Sollte uns das nicht freuen? Als mit dem Fall des Eisernen Vorhangs Anfang der 1990er plötzlich die wachsende Mittelschicht der ost-europäischen Nachbarländer oder russische Gäste ihr Erspartes in die Kassen der Tourismusbetriebe streuten, schien alles noch in Ordnung. Immerhin handelte es sich auch dann noch um weltweit nur ein paar hundert Millionen potenzieller Gäste. Leute, die nie und nimmer alle gleichzeitig kommen würden. Als mit der Jahrtausendwende ein Teil der 1,3 Milliarden Chines*innen begann, weitere Kreise durch die Welt zu ziehen, änderten sich die Verhältnisse jedoch schlagartig. Was an touristischem Raum für die traditionelle Kundschaft aus Europa und Nordamerika noch gut ausreichte, wurde und wird knapp und knapper. Dazu kommen aktuell 2 Milliarden potenzielle Gäste aus Indien, dem arabischen Raum und einzelnen Regionen Afrikas, um irgendwann das zu erleben, was alle erleben: Europa und seine Sehenswürdigkeiten.

So gruselig diese Rechnung auch anmuten mag, sie ist ein Indiz für ein zumindest grundlegendes Funktionieren der globalen Gesellschaft. Deshalb möchte ich nicht, dass die Weltgemeinschaft wieder in geopolitische Einzelteile und Blöcke zerfällt. Auch nicht, dass die Zahl der Kriege zunimmt oder die Wirtschaft nachhaltigen Schaden erleidet. Selbst wenn Einschränkungen der Reisefreiheit am anderen Ende der Welt bewirken könnten, dass Hallstadt, Barcelona oder Venedig wieder mehr Luft zu atmen bekämen. Es muss einfach andere Wege geben, sich vor der steigenden Beliebtheit der Heimat als Reiseziel zu schützen, als die Grenzen dicht zu machen. Auch, um dem übergriffigen Verhalten vieler Gäste und damit dem Angriff auf die Lebensqualität der Einheimischen wirksam Einhalt zu gebieten. Als erstes fiele mir da ein, als Europäer*innen wieder einmal als Beispiel voranzugehen und das global nachgeahmte touristische Verhalten als respektvoll, nachhaltig und unaufdringlich neu zu prägen. Vielleicht ist auch das Beste, was wir anderen Ländern auf dem Weg in eine friedlichere, wirtschaftlich bessere Zukunft anbieten können, vorbeizukommen und eine gewisse Zeit mit uns zu verbringen. Dabei hiesige Kultur zu schnuppern und sich Ezzes zu holen, wohin die Reise als Gesellschaft noch gehen könnte. Und Freundschaften zu schließen, die in unserer zunehmend vernetzten Welt einmal wertvoll werden können.

Salzburg, 9|2023 – Gerd

PS: Als Salzburger habe ich übrigens beschlossen, das ganze Jahr über dort Urlaub zu machen, wo andere Urlaub machen, nämlich im touristischen Salzburg. Wohnen tue ich eher zurückgezogen – auch in Salzburg. Und wenn mir die Touris auf den Arsch gehen, überlege ich ernsthaft, in der Nacht nach Hallstadt zu fahren und zum Frustabbau in den Vorgarten irgendeines historischen Altstadthauses zu urinieren. Letztendlich tu ich das dann aber doch nicht.

Hinweis

Irgendwie scheinen mir die „Hiesigen“ etwas arg am Jammern, hingegen aber etwas lax im Umgang mit künftigen Herausforderungen. In der aktuellen Mini-Serie geht es deshalb darum aufzuzeigen, wo ich mir mehr Kreativität, Konsequenz und weniger Prinzip Hoffnung wünschen würde.

Autochthon = einheimisch, eingeboren

Hiesige = umgangssprachlich für die autochthone Bevölkerung

Overload = Überfrachtung, Reizüberflutung

Ezzes = Tipps, Ratschläge

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